Kapitel 4: Flucht und Exil im Saargebiet und in Frankreich

 

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten.


Sofort nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler und der Vereidigung seines Kabinetts am Montag, dem 30. Januar 1933, ging es dann Schlag auf  Schlag weiter mit der Demontage des Rechtsstaats, der Abschaffung der Demokratie und der Etablierung eines totalitären Unrechtsstaats.

Und dabei war das, was die Nazis - pompös wie immer -  „Machtergreifung“ nannten, an sich ein fast alltäglicher Vorgang in der mit Hitler zu Ende gegangenen Weimarer Republik: Der greise Reichspräsident Paul von Hindenburg hatte den Vorsitzenden der stärksten im Reichstag vertretenen Partei, Adolf Hitler von der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, zum 21. Reichskanzler nach dem Ersten Weltkrieg ernannt. Vor ihm waren 20 Regierungen gekommen und wieder gegangen – mit einer arithmetischen Verfallzeit von nur gut acht Monaten. Hitler bildete eine Koalitionsregierung aus NSDAP, DNVP und Stahlhelm. Sie hatte zwar nicht die Mehrheit im Parlament, wohl aber das Vertrauen des greisen Reichspräsidenten von Hindenburg, der nach der Vereidigung das neue Kabinett mit den Worten an die Arbeit gehen ließ: 

Reichspräsident von Hindenburg nach der Vereidigung der Hitler-Regierung:

„Und nun, meine Herren, vorwärts mit Gott!“ 

 

Zunächst änderte sich formal eigentlich nichts. Hitler und seine Nationalsozialisten machten sich „nur“ das Instrumentarium der Macht zunutze, derer sich die früheren Präsidialregierungen der Reichskanzler Brüning, von Papen und von Schleicher im Zusammenwirken mit dem Reichspräsidenten von Hindenburg bedient hatten – nur sehr viel konsequenter, radikaler und erfolgreicher als die Vorgänger.

Das begann schon zwei Tage nach der Ernennung der neuen Regierung damit, dass von Hindenburg den erst im November 1932 gewählten Reichstag auflöste und für den 5. März 1933 Neuwahlen zum Reichstag bestimmte. Hitler gab für die Reichsregierung auch gleich die Wahlparole aus: „Angriff gegen den Marxismus“- bekämpft werden sollten also KPD und SPD. Kurz darauf löste der inzwischen vom Reichspräsidenten zum Reichskommissar für Preußen ernannte von Papen zusammen mit dem Landtagspräsidenten Hans Kerll (NSDAP) und dem Präsidenten des Staatsrats Dr. Konrad Adenauer (Zentrum) den preußischen Landtag auf und bestimmte ebenfalls für den 5. März 1933 Wahlen zum Preußischen Landtag. Kurz zuvor hatte der Preußische Landtag die Gemeindeparlamente aufgelöst und Wahlen zu den Kreistagen und den Stadtverordnetenversammlungen für den 12. März 1933 ausgeschrieben.Mitten im beginnenden Wahlkampf schränkte dann Reichspräsident von Hindenburg mit der „Verordnung zum Schutze des deutschen Volkes“ vom 4. Februar 1933 die Presse- und Versammlungsfreiheit ein. Sie sah massive Einschränkungen vor und enthielt dehnbare Formulierungen, so dass der politische Gegner nach Belieben mundtot gemacht werden konnte. Die Folge war eine Vielzahl von zunächst  zeitlich begrenzten Zeitungsverboten. Davon war auch die „Leuchtrakete“ betroffen. Sie wurde am 18. Februar 1933 für die Dauer von sechs Monaten verboten und ist dann nicht mehr erschienen.

Unterdessen bemächtigte sich Hermann Göring, der außer Minister ohne Geschäftsbereich in der Regierung Hitler auch kommissarischer Innenminister von Preußen geworden war, des preußischen Polizeiapparates.  Mitte Februar 1933 wurden die nach dem „Preußenschlag“ noch verbliebenen republikanischen Polizeipräsidenten „bis auf weiteres“ beurlaubt – sie kehrten nie wieder in ihre Positionen zurück. Und in aller Öffentlichkeit verkündete Göring:

Göring über sein Vorgehen als neuer Innenminister Preußens:

„Volksgenossen, meine Maßnahmen werden nicht angekränkelt sein durch irgendwelche juristische Bedenken. Meine Maßnahmen werden nicht angekränkelt sein durch irgendwelche Bürokratie. Hier habe ich keine Gerechtigkeit zu üben, hier habe ich nur zu vernichten und auszurotten, weiter nichts!“


Das gefiel Josef Goebbels, der in seinem Tagebuch notierte:

Goebbels zu Görings Maßnahmen:

„Göring räumt in Preußen auf mit einer herzerfrischenden Forschheit. Er hat das Zeug dazu, dass radikale Sachen zu machen, und auch die Nerven, um einen harten Kampf durchzustehen.“


Zu diesen von Goebbels angesprochenen „radikalen Sachen“ gehörte der Erlass des Preußischen Innenministers 17. Februar 1933. Mit ihm  drohte Göring den „lauen“ Beamten und verlangte von ihnen den Einsatz für die „nationale Bewegung“. Vor allem ermunterte er die Polizeibeamten zum Schusswaffengebrauch gegen „Staatsfeinde“ und sicherte Straffreiheit zu. Deshalb hieß er auch der „Schießerlass“.

Erlass des Preußischen Innenministers Hermann Göring vom 17. Februar 1933 - „Schießerlass“

„Dem Treiben staatsfeindlicher Organisationen (ist) mit den schärfsten Mitteln entgegenzutreten. Gegen kommunistische Terrorakte und Überfälle ist mit aller Strenge vorzugehen und, wenn nötig, rücksichtslos von der Waffe Gebrauch zu machen. Polizeibeamte, die in Ausübung dieser Pflichten von der Schusswaffe Gebrauch machen, werden ohne Rücksicht auf die Folgen des Schusswaffengebrauchs von mir gedeckt; wer hingegen in falscher Rücksichtnahme versagt, hat dienststrafrechtliche Folgen zu gewärtigen.(…) Jeder Beamte hat sich stets vor Augen zu halten, dass die Unterlassung einer Maßnahme schwerer wiegt als begangene Fehler in der Ausübung.“

Wenige Tage später wurde mit der Behauptung, die Polizei könne dem Terror der Kommunisten allein nicht Herr werden, eine Hilfspolizei bestehend aus SA, SS und Stahlhelm mit insgesamt 50.000 Mann zur Unterstützung der preußischen Polizei aufgestellt.


Am Abend des 27. Februar 1933 brannte der Reichstag in Berlin. Beteiligt daran war der arbeitslose holländische Maurergeselle und Kommunist Marinus von der Lubbe. Die Hintergründe der Tat sind bis heute nicht exakt aufgeklärt und so wird es wohl auch bleiben. Jedenfalls war der Reichstagbrand für die Nazis eine Riesenchance, die Macht weiter zu erobern. Mit der von Hitler vorbereiteten „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28. Februar 1933, der sog. Reichstagsbrand-Verordnung, gab  Reichspräsident von Hindenburg die Jagd auf die Kommunisten und andere politische Gegner „zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte“ frei. 

Damit wurden die Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung – wie es hieß – „bis auf Weiteres“ außer Kraft gesetzt. Tatsächlich blieben die Grundrechte bis zum Ende der NS-Herrschaft 1945 abgeschafft. Zugleich bildete die Reichtagsbrandverordnung die (scheinlegale) Grundlage für die sog. Schutzhaft. Nunmehr konnte die Polizei Kommunisten und andere missliebige politische Gegner, ohne dass ihnen irgendeine Straftat oder ähnliches vorgeworfen werden konnte und ohne richterlichen Haftbefehl, in staatspolizeiliche Haft genommen werden. Die Kommunisten und die anderen politischen Gegner der Nazis waren „vogelfrei“.

Das bekamen sehr schnell auch die Kreuznacher Kommunisten und insbesondere Hugo Salzmann zu spüren. Noch am späten Nachmittag des 28. Februar 1933 erhielt Bürgermeister Dr. Fischer in seiner Eigenschaft als Chef der Polizeiverwaltung Bad Kreuznach die Anweisung aus Berlin, alle Funktionäre der örtlichen KPD mit Polizei, SA und SS verhaften zu lassen. Diese Aktion sollte schlagartig um 8.00 Uhr abends erfolgen. Dazu hatte sich die gesamte SA und SS von Kreuznach auf dem Polizeiamt eingefunden. Zum Glück für Hugo Salzmann wurde er von einem Kreuznacher namens Lorenz darüber informiert. Seinerseits konnte er noch Genossen warnen. Als Punkt 20.00 Uhr SA, SS und Polizei in starken Kolonnen zu Fuß und auch mit Autos in die Wohnungen der Kommunisten einfielen, hatte Salzmann einige Minuten zuvor das Haus verlassen. Der Trupp traf in seiner Wohnung in der Beinde 21 lediglich seine Frau Julianna und ihren drei Monate alten Sohn Hugo an. 

Der brennende Reichstag am Abend des 27. Februar 1933 
(Quelle: Bundesarchiv)

Hugo Salzmann verschwand – aber wohin sollte er flüchten und untertauchen? Nach einer kurzen Zeit des Umherirrens fand er Unterschlupf bei dem Sozialdemokraten Heinrich Kreuz und dessen Ehefrau in der damals noch selbständigen Gemeinde Planig. Das war für alle Beteiligte in hohem Maße gefährlich. Denn schon wenige Tage später suchte man auf Fahndungsplakaten nach Hugo Salzmann. Am SA-Sturmlokal Wetzel an der Nahebrücke hing ein Anschlag, der jedem, der Hugo Salzmann lebend oder tot beibringen würde, 800.- Reichsmark Kopfgeld versprach. Es war wie im „Wilden Westen“ – und das mitten im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Das war auch die Stunde des SA-Sturmführers Kappel aus Roxheim, der ein weiteres Mal sich damit brüstete, die Kugel für Salzmann sei schon gegossen. Die Nazis suchten Salzmann an zahlreichen Orten in Kreuznach und Umgebung. Vor allem konzentrierte man sich auf Planig. Zweimal umstellten Polizei, Gendarmerie, SA, Stahlhelm und SS den ganzen Ort und durchsuchten Häuser – aber erfolglos.

HIER Pressebericht  vom Öffentlichen Anzeiger zum Reichtagsbrand lesen

Wahlplakat der NSDAP zur Reichstagswahl am 5. März 1933 
mit der Hetze gegen die Kommunisten – und die Sozialdemokratie



Die letzten halbwegs legalen Wahlen.


Während Hugo Salzmann so in seinem Versteck ausharrte, ging die Machtübernahme der Nazis im Deutschen Reich und in Bad Kreuznach weiter – wenn sich die NSDAP von den Wahlen zunächst auch mehr versprochen hatte.

Die NSDAP erreichte bei den Reichstagswahlen am 5. März 1933 im Vergleich zu den Wahlen am 6. November 1932 zwar 10,8 Prozent mehr Stimmen, schaffte aber nicht die absolute Mehrheit, sondern „nur“ 43,9 Prozent. Zur absoluten Mehrheit reichte es erst mit den Stimmen der „Kampffront Schwarz-Weiß-Rot, bestehend vor allem aus den Deutschnationalen. Deren 8 Prozent der Stimmen brachten für die Koalition dann 51,9 Prozent der Stimmen. Erstaunlich war auch, dass trotz aller Schikanen und Beschränkungen das Zentrum und die SPD ihren Stimmenanteil halten konnten. Auch die KPD erzielte trotz der massiven Behinderung und Verfolgung mit 12,3 Prozent der abgegebenen Stimmen ein bemerkenswertes Ergebnis. Die Parteien der bürgerlichen Mitte wurden allerdings endgültig zerrieben.

 

Reichtagswahl - vom 5. März 1933 - Ergebnisse im Reich 

 

Die Ergebnisse der Reichstagswahl waren in Bad Kreuznach noch erstaunlicher als im gesamten Deutschen Reich. Auch hier konnte die NSDAP im Vergleich zur Novemberwahl des Vorjahres Wähler hinzugewinnen, insgesamt knapp 2000. Sie erreichte aber „nur“ 32 Prozent der Stimmen und war damit von der absoluten Mehrheit weit entfernt. Die KPD hatte trotz der Verhaftungswelle und der Verfolgungen sogar noch 93 Wähler mehr als im November 1932. Die anderen größeren Parteien verloren aber allesamt: das Zentrum büßte 658 Stimmen, die SPD 390 Stimmen und die DVP 433 Stimmen ein.

Reichtagswahl - vom 5. März 1933 - Ergebnisse in der Stadt Bad Kreuznach 

 

Ähnlich war das Ergebnis der Wahlen zur Bad Kreuznacher Stadtverordnetenversammlung eine Woche später. Die NSDAP, die bisher überhaupt noch nicht im Kreuznacher Stadtrat vertreten war,  erreichte 10 Mandate, die Kampffront Schwarz-Weiß-Rot 3 Mandate, das Zentrum und die KPD kamen auf je 6 Sitze, die SPD und die Bürgerliste brachten es auf je drei Stadtverordnete. Damit hatten die hatten die Nationalsozialisten zusammen mit der Kampffront Schwarz-Weiß-Rot (bestehend aus „Deutschnationalen“ und „Stahlhelm“) im Kreuznacher Stadtparlament nicht die absolute Mehrheit. Ihren 13 Mandaten standen 18 Mandate anderer Parteien und der Bürgerliste gegenüber.

Wahl zur Kreuznacher Stadtverordnetenversammlung

 

Julianna Salzmann bestätigt für ihren untergetauchten Mann
den Empfang der Mitteilung über dessen Wahl zum Kreuznacher Stadtverordneten

Aber der Schein trog. Das wird schon beispielhaft deutlich am Schicksal Hugo Salzmanns. Er wurde wieder in den Stadtrat von Bad Kreuznach und auch in den Kreistag von Kreuznach  gewählt – war aber untergetaucht in einem Versteck in Planig. Seine Frau erhielt zwar – so viel Ordnung war noch – die Mitteilung der Stadt über seine Wiederwahl zum Stadtrat, den Erhalt des Briefes quittierte sie auch – aber was war das unter diesen Umständen schon wert?! 

Zur Eröffnungssitzung des neuen Stadtrates von Bad Kreuznach wurde Hugo Salzmann – wie die übrigen kommunistischen Ratsmitglieder - schon gar nicht eingeladen. Er wäre zudem auch nicht aus seinem Versteck aufgetaucht, man hätte ihn ja sofort in „Schutzhaft“ genommen – hieß es doch auf den Fahndungsplakaten „Tot oder lebendig“ . Damit fielen sechs Stadtverordnete der KPD aus. Die drei SPD-Ratsmitglieder zogen es unter diesen Umständen vor, gar nicht zur Eröffnungssitzung zu erscheinen. Damit fielen drei weitere Ratsmitglieder aus. Von den 18 Nicht-NSDAP- und Nicht-Kampffront Schwarz-Weiß-Rot-Stadträten blieben damit nur noch 9 übrig. Ihnen gegenüber hatten die Nazis und die Kampffront Schwarz-Weiß-Rot mit 13 Mandaten die Mehrheit. Die restlichen Stadtverordneten vom Zentrum und der Bürgerliste hatten da nichts mehr zu vermelden. Das auch deshalb, weil die NSDAP inzwischen im Reich ihre Machtposition ausgebaut hatte und sich kein Widerstand dagegen regte.

Goebbels notierte dazu in seinem Tagebuch:

„Wir sind die Herren im Reich und in Preußen; alle anderen sind geschlagen zu Boden gesunken. Eine lange Arbeit wird mit letztem Erfolg gekrönt. Deutschland ist erwacht.“


In diese feierliche Eröffnungssitzung des neuen Stadtrats Anfang April 1933  im Kursaal hätte Hugo Salzmann auch gar nicht hineingepasst. Die Nazis feierten sich selbst und ließen sich von den Kreuznachern feiern. Auf einer ganzen Seite berichtete der Öffentliche Anzeiger über dieses Ereignis. Wie es hieß, empfing der große Kurhaussaal die erste Stadtverordnetenversammlung des mit der nationalen Erhebung neu gewählten Kollegiums. Stimmungsvoll war der Saal mit frischem Grün und den Farben der Stadt, des Reiches und dem Hakenkreuz geschmückt. Auf der Bühne saß ein ansehnliches Streichorchester, aus Kreuznacher Bürgern gebildet. Sänger des Liederkranzes schlossen sich an. Vor der Bühne war eine in den städtischen Farben ausgeschlagene Estrade errichtet. Der Tisch der Stadtverordneten nahm die ganze Breite des Saales ein. Der Saal war von Vertretern des Bürgertums dicht besetzt. Dann – auf ein Zeichen – flammten die Kronleuchter im Saal auf und die nationalsozialistischen Stadtverordneten hielten unter stürmischem Rufen des Publikums in SA-Uniform ihren Einzug in den Saal, geschmückt mit Blumensträußen, die begeisterte Bürger ihnen an der Ecke der Salinenstraße überreicht hatten. Im Kurgarten hatte sich eine tausendköpfige Menschenmenge versammelt, die den Vorgängen im Saal am Lautsprecher lauschte. Man sah zahlreiche uniformierte SA, SS und Stahlhelmer, ihre Träger hatten unter Vorantritt der Stahlhelmkapelle die nationalsozialistischen Stadtverordneten zum Sitzungssaal geleitet.

Pompöse Eröffnung des ersten von Nationalsozialisten dominierten Stadtrates von Bad Kreuznach Anfang April 1933
(Quelle: Stadtarchiv Bad Kreuznach)

Nach viel Musik hielt Oberbürgermeister Dr. Fischer eine große Ansprache, die in dem Zeitungsartikel ebenfalls überliefert ist. Darin führte er aus:

Der Oberbürgermeister Dr. Fischer zur Eröffnung der ersten Sitzung des Kreuznacher Stadtrates am  6. April 1933   
           
 „Deutsche Männer und Frauen, meine sehr geehrten Stadtverordneten!

Ich eröffne die erste Sitzung der Stadtverordneten nach der Staatsumwälzung durch die nationale Erhebung und heiße Sie auf das Herzlichste willkommen. Von den 31 gewählten Vertretern der Bürgerschaft sind 22 heute erschienen. 6 der Kommunistischen Partei angehörende Gewählte sind nach der Anweisung des Herrn Ministers des Innern nicht eingeladen. Die Stadtverordneten  M e s s e r,    F e c h t e r  und  W e l l m a n n  haben sich für die heutige Sitzung entschuldigt. 

Zu feierlicher Stunde sind wir zusammen gekommen, um in breitester Öffentlichkeit diese erste Sitzung abzuhalten. In dieser Stunde, die so ganz unserer Bürgerschaft gehört, wollen wir unsere Herzen erheben zu unserem Vaterland und seinem heißen Ringen um die höchsten Güter eines Volkes. Wir wollen mit unserem ganzen Fühlen umfassen das Deutschland, das die Ideale des starken nationalen Bewusstseins, der Ehre, der Freiheit und des gerechten sozialen Ausgleichs auf seine Fahnen geschrieben hat. Wir wollen uns in dieser Stunde aber auch darüber Rechenschaft geben, dass es bei der Volkserhebung, die zu der Machtergreifung durch Reichskanzler Adolf Hitler und die nationale Regierung geführt hat, darum geht, die Nation der Deutschen, von einer starken Hand regiert, zu einem einzigen wirklich in sich geschlossenen Volk zusammenzuschweißen. Über der Parteien Gunst stehend soll dadurch für unser schwergeprüftes und Leid gewohntes Volk die Möglichkeit neuen Aufstiegs und neuen Glücks der Weg bereitet werden in seinem Geist höchster Gerechtigkeit, staatspolitischer Einsicht, Ehrfurcht vor der großen Tradition und zielstarken Wollens, wie er aus den Regierungserklärungen des Herrn Reichskanzlers Adolf Hitler klang. Diesem Ziel zu dienen, gilt es für jeden Deutschen, die wir deutschen Blutes und Herzens sind, und hier liegt auch der Angelpunkt für jeden, dem Ringen und Geschehen zum Aufbau des Staates nicht einfach zuzusehen, sondern tätig und fördernd mitzuhelfen an diesem großen nationalen Ziel. Gerade unsere Stadt mit ihrer zweitausendjährigen Geschichte, die so oft den Niedergang in Zeiten der Schwäche und den Wiederaufstieg in Zeiten starker fürsorgender Staatsgewalt erlebt und deren Bevölkerung in allen ihren Schichten in den letzten eineinhalb Jahrzehnten so Schweres gelitten hat, 

hat allen Grund, rückhaltlos sich zur nationalen Regierung und der nationalen Aufbauarbeit zu bekennen.

Wir wollen dabei besonders jener nervenaufreibenden schweren Kämpfe und Bedrückung gedenken, die mit mir weite Kreise der Bürgerschaft während der Besatzungszeit durchmachen mussten. Kämpfe, in der Stille ausgefochten, deren Auswirkungen heute noch nicht überwunden sind. Was damals mir und meinen Beamten und allen anderen immer wieder die Kraft zum Ausharren gab, war das Bewusstsein, der gesamten Bürgerschaft und unserem Vaterland bis zum letzten Augenblick dienen zu müssen. Dieser Gedanke muss auch in Zukunft alle leiten. 

Für Sie, meine Damen und Herren als Stadtverordnete aber gilt es, von heute ab in vorderster Linie für das Gedeihen unserer Kreuznacher Bevölkerung einzustehen und alle Kraft ernster, pflichtbewusster und von höchster Verantwortung für die ganze Bevölkerung getragener Arbeit einzusetzen. Nehmen Sie diese schwere und nicht immer dankbare Arbeit in dem Bewusstsein und den heiligen Willen auf sich, wirklich aufzubauen. Ein Gemeinwesen ist ein ungeheuer feiner Apparat mit seinen vielfachen Verzweigungen und Verflechtungen ineinander.“


Nach dem Singen des Deutschlandliedes und der Vereidigung der Stadtverordneten gab Oberbürgermeister Dr. Fischer zur Ernennung Hitlers zum Ehrenbürger von Bad Kreuznach noch eine Erklärung.

Erklärung des Oberbürgermeisters Dr. Fischer zur Verleihung der Ehrenbürgerrechte an Adolf Hitler:

„Die höchste Auszeichnung, die die Stadt für besondere Verdienste zu vergeben hat, ist die Verleihung des Ehrenbürgerrechts. Seit langer Zeit ist die Auszeichnung nur viermal erfolgt. Neben den beiden um die Stadt hoch verdienten Bürgern Franz Potthoff und Joseph Schneider haben wir das Ehrenbürgerrecht nur noch unserem hoch verehrten Reichspräsidenten und Generalfeldmarschall v. Hindenburg, zu dem das ganze Volk in seltener Treue steht, und seinem Mitarbeiter General Ludendorff verliehen. Nunmehr soll (die Versammlung erhebt sich) auch dem großen Führer des Volkes Reichskanzler Adolf Hitler diese höchste Ehre verliehen werden. Ich stelle mit großer Freude fest, dass der Herr Reichskanzler von der Stadtverordnetenversammlung einstimmig zum Ehrenbürger ernannt wird. (Stürmischer Beifall, anhaltende Heilrufe, lebhaftes Bravo). Möge es unserem vom ganzen Volk bewunderten und verehrten neuen Ehrenbürger gelingen, das hohe Ziel zu erreichen, das er sich gesteckt hat: ein starkes deutsches Reich in Einigkeit, in Glück und Freiheit! Um unsere Anerkennung der Verdienste Adolf Hitlers um Reich und Volk auch einen dauernden äußeren Ausdruck zu geben, wollen wir den 
                                    
Schlossplatz Adolf Hitler-Platz

Nennen und die Schlossstraße Adolf Hitler-Straße. Ich stelle Ihre einstimmige Zustimmung fest.
(Bravo, lebhafter Beifall).
(zitiert nach: Öffentlicher Anzeiger vom 6. April 1933)

 

 

Flucht ins Saargebiet.


Das, was die Nazis so mit Pomp und sehr viel Propaganda einrichteten, sollte der Beginn ihres „Tausendjährigen Reiches“ sein. Hugo Salzmann war unter diesen Umständen klar geworden, dass er sein Versteck bei der Familie Kreuz baldmöglichst aufgeben musste – auch um seine Helfer nicht weiter zu gefährden. Für Kommunisten wie Hugo Salzmann war es aber nicht ohne weiteres möglich, ins Ausland zu fliehen. Das lag nicht nur an den rein tatsächlichen Schwierigkeiten, das Versteck zu verlassen und zu emigrieren. Die KPD übte nämlich einen erheblichen Druck auf solche Funktionäre wie Hugo Salzmann aus, damit sie nach ihren Anweisungen fliehen oder in Deutschland illegal leben und die kommunistische Partei wieder aufbauen. Oder auch nach einer gewissen Zeit im Ausland zum Aufbau der Partei wieder ins Reich zurückkehren. Die KPD wollte alle Fäden in der Hand halten und insbesondere die Partei wieder aufbauen – um nach dem von ihr erwarteten baldigen Scheitern Hitlers und seiner Regierung die Macht zu übernehmen. Aber sehr gut und richtig war die KPD über Hugo Salzmann dann doch nicht informiert. Angeblich soll er nämlich einer Aufforderung der Partei, ins Saargebiet zu gehen, nicht nachgekommen sein. Das kann aber kaum stimmen – ebenso wenig wie es in derselben Quelle heißt, er sei 1926 in einen Prozess verwickelt gewesen, Mitglied der Revolutionären Gewerkschaftsopposition (RGO) zu sein. Immerhin bestätigten später Hugo Salzmanns Genossen im Exil, dass er ohne Genehmigung der Partei geflohen sei.

Offensichtlich auf deren Rat hin – d.h. wohl besser auf den seiner Genossen vor Ort – bereitete er seine Flucht aus Deutschland vor. Für viele Kommunisten aus Südwestdeutschland war das Saargebiet, wie das Saarland damals noch hieß, ein guter Fluchtpunkt. Denn aufgrund des Friedensvertrages von Versailles und des „Saarstatuts“ war es ein zeitlich befristetes völkerrechtliches Gebilde eigener Art. Das Saargebiet war, wie es die Zeitung „Deutsche Freiheit“ einmal formulierte, eine „freie, deutsche Insel“, die sich noch hielt, während der größere Teil Deutschlands bereits von braunen Fluten überschwemmt wurde. Das Saargebiet war zwar Teil Deutschlands, wie auch die Einwohner deutsche Staatsbürger blieben, und es galten auch die deutschen Gesetze aus der Zeit vor dem 11. November 1918. Aber alle Staatsgewalt – die legislative, exekutive und judikative – ging auf den Völkerbund über.
 
Wahrgenommen wurde diese von einer Regierungskommission, deren fünf Mitglieder Staatsangehörige verschiedener Staaten sein mussten. Dabei hatte allerdings Frankreich eine Vormachtstellung. Dieser Status sollte nach 15 Jahren und einer Volksabstimmung der Saarländer beendet werden. Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich waren – wenn sie denn erst einmal dorthin gelangten – weitgehend sicher. Deshalb lag es für Hugo Salzmann nahe, ins Saargebiet zu fliehen, zumal seine Verwandten väterlicherseits von dort, aus Friedrichsthal und auch aus St. Ingbert, stammten. Das Problem war allerdings, diesen Fluchtpunkt von Planig aus zu erreichen.

Da bewährte sich die Freundschaft zur Familie Baruch Die Baruchs waren eine jüdische Familie, die um 1890 in Kreuznach ansässig geworden war. Weit über Kreuznach hinaus bekannt, ja berühmt wurde sie durch die 1892 bzw. 1894 geborenen Brüder Julius und Hermann Baruch. Beide waren sportliche Ausnahmeerscheinungen. 1924 wurden sie in verschiedenen Klassen im Gewichtheben Europameister. Bei denselben Meisterschaften gewann Julius  Baruch noch die Silbermedaille im Ringen. Beide hatten entscheidenden Anteil, dass die Kreuznacher 1925 im Ringen die Deutsche Mannschaftsmeisterschaft gewannen. 1928 wurden sie mit Hermann wieder deutscher Mannschaftsmeister, Julius war inzwischen Trainer der Mannschaft geworden. Auch wenn man es von der Gestalt her nicht vermutete, war Julius ein Liebhaber schöngeistiger Literatur. Später nannte man ihn den „Riesen mit dem Kindergemüt“. Verheiratet war Julius mit seiner Frau Klara, geborene Pfeiffer, sie war Christin, Probleme deswegen gab es keine. Julius Baruch war Inhaber einer Autovermietung und dies sollte für Hugo Salzmann die Rettung sein.

Mannschaftsvergleichskampf zwischen dem ASV Kreuznach 1903 und ---- Budapest, 1923 
links von Bad Kreuznacher Trainer  Julius und daneben Hermann Baruch 
(Quelle: Olympiastützpunkt Bad Kreuznach)

 

Julius Baruch und seine Frau Klara ließen sich nicht zweimal bitten, den verfolgten Kommunisten Hugo Salzmann zur Flucht zu verhelfen. Dazu brachten Frau Kreuz und eine ihrer Freundinnen Salzmann zu den Eheleuten Baruch. Diese fuhren ihn dann mit dem Auto zum Bahnhof Binger- brück. Von dort nahm er den Zug ins Saargebiet.

Hermann Baruch als hochdekorierter Meisterringer, 1924 wurde er Europameister im Gewichtheben
(Quelle: Olympiastützpunkt Bad Kreuznach)

Bescheinigung des Bürgermeisters der Gemeinde Planig Heinrich Kreuz vom 4. Juli 1950 

„Unterzeichner bestätigt  (…) Hugo Salzmann, geb. 4. Februar 1903, dass er wenige Tage nach dem Reichstagsbrand in unserem Dorf illegale Unterkunft gesucht hat. Ich habe ihn dann in meiner eigenen Wohnung wochenlang illegal versteckt. Salzmann war es gelungen, sich durch diese Flucht seiner Verhaftung durch die NSDAP, der SA und SS zu entziehen. Nachdem die Nationalsozialisten Verdacht schöpften, suchten sie ihn in unserer Gemeinde, sperrten den Ort Planig zweimal mit SS, SA, Stahlhelm, Gendarmerie und Polizei vollständig ab und führten Haussuchungen durch.
 
Ich kann bestätigen, dass durch die damalige Situation, insbesondere durch den damaligen SA-Sturmführer Kappel aus Roxheim, dann in Bad Kreuznach führend, Salzmann heute nicht mehr leben würde, wenn sie ihn damals gefunden hätten. Der damalige jüdische Taxibesitzer Julius Baruch, welcher im KZ Buchenwald 1945 noch umkam, sowie seine Frau Klara Baruch, Bad Kreuznach, Hochstraße, transportierten Salzmann unter Lebensgefahr nach Bingerbrück zum Bahnhof. Meine Frau und eine Freundin hatten seinerzeit Salzmann abends zu dem Taxi gebracht.

Der Abtransport erfolgte auf Anweisung der Genossen Salzmanns aus Bad Kreuznach, da sie wussten, wenn man ihn verhaftet, er nicht mehr am Leben bleiben würde.
 
Obige Angaben kann ich jederzeit vor dem Gericht beeiden.

Planig/Rheinhessen, den 4. Juli 1950     Heinrich Kreuz (Bürgermeister der Gemeinde Planig) (Dienstsiegel)


In diese Verfolgung Hugo Salzmanns wurde sogleich seine kleine Familie einbezogen. Es fand damals schon statt, was die Nazis „Sippenhaft“ nannten und nach dem 20. Juli 1944 an den Angehörigen der Verschwörer „generalstabsmäßig“ praktizierten. Immer wieder machte die Polizei bei Julianna Salzmann Hausdurchsuchungen, kontrollierte ihren Tages- ablauf und Umgang. 

Während Frau und Kind so drangsaliert wurden, war Hugo Salzmann inzwischen im Saargebiet angekommen. Er war einer von insgesamt hunderten „Gästen“, deren Zahl nicht exakt ermittelt werden kann. Viele Flüchtlinge meldeten sich nämlich nicht bei den amtlichen Stellen, sondern hielten sich illegal im Saargebiet bei Verwandten oder Freunden auf oder wanderten nach einer kürzeren Zeit des Aufenthalts nach Frankreich weiter. So war es auch bei Hugo Salzmann. Er kam wohl im April 1933 ins Saargebiet und verließ es im Juni desselben Jahres schon wieder. Mit Blick auf die Verwandtschaft väterlicherseits steht zu vermuten, dass er bei Angehörigen in St. Ingbert illegal untergekommen war, ehe er dann nach Frankreich weiter emigrierte.

Inzwischen hatten die Nazis – etwa mit der Einrichtung der ersten Konzentrationslager,  dem „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ vom 23. März 1933 (dem sog. Ermächtigungsgesetz, mit dem sich der Reichstag selbst entmachtete) und der Zerschlagung der Gewerkschaften am 2. Mai 1933 – die Macht weiter erobert. Die KPD rechnete immer noch mit Hitlers baldigem Ende und forderte die geflohenen Genossen auf, ins Reich zurückzukehren und die Partei im Untergrund wieder aufzubauen. Hellsichtige Beobachter wie der französische Botschafter in Berlin André François-Poncet hatten aber erkennt, dass das Konzept der „Einrahmung Hitlers“ gescheitert war.  

Bericht des französischen Botschafters in Berlin André François-Poncet von April 1933 nach Paris:

„Als am 30. Januar das Kabinett Hitler/Papen an die Macht kam, versicherte man, dass in der Regierung die Deutschnationalen (…) Hitler und seinen Mitkämpfern Paroli bieten würden, dass die Nationalsozialisten mit der Feindschaft der Arbeiterklasse zu rechnen haben und dass schließlich die Katholiken der Zentrumspartei die Legalität verteidigen würden. Sechs Wochen später muss man feststellen, dass all diese Dämme, die die Flut der Hitler-Bewegung zurückhalten sollten, von der ersten Welle hinweggespült wurden.“


Als Julianna dann noch von SA-Leuten auf der Neuen Brücke in Bad Kreuznach niedergeschlagen worden war, war die Situation für sie so unerträglich geworden, dass Parteigenossen aus Kreuznach für ihre Flucht mit dem sechs Monate alten „Klein-Hugo“ sorgten. Beide gelangten über das Saargebiet weiter nach Paris, wo Hugo Salzmann mittlerweile eingetroffen war.

Erklärung von Frau Antonie Kohl vom 15. Mai 1952:

„Vorgeladen und mit dem Gegenstand der Sache vertraut gemacht, erklärt Frl. Antonie Kohl, Stadträtin, Bad Kreuznach, Hermannstraße 15, folgendes:

Als Mitglied der KPD, Ortsgruppe Kreuznach vor dem Jahre 1933, war ich nach 1933 selbst der politischen Verfolgung durch SA und Polizei ausgesetzt. Ich habe persönlich erlebt und kann daher aus eigener Anschauung bestätigen, dass Frau Julianna Salzmann nach der gelungenen Flucht ihres Ehemannes Hugo Salzmann (Ende Februar und Anfang März 1933) tagtäglich schwere Verfolgungen – Hausdurchsuchungen (ausgeführt von Polizei und SA) – über sich ergehen lassen musste. Man wollte sich über den Aufenthalt ihres Mannes, durch ständige Überwachung ihrer Wohnung und auf der Straße verbunden mit Belästigungen schlimmster Art, Gewissheit verschaffen. Da Frau Julianna Salzmann schließlich ihres Lebens nicht mehr sicher war, verhalfen wir ihr zur Flucht, zumal ihr Gesundheitszustand durch die ständig zunehmende Bedrohung sich zusehends verschlechterte. Ich kann nur betätigen, dass Frau Julianna Salzmann damals in ihrer Grundhaltung ein Gegner des Naziregimes aus politischer und menschlicher Erwägung war. Ihre Mitgliedschaft bei der „IAH“ und „Roten Hilfe“ vor 1933 war mir bekannt.“

 

Antonie Kohl nach dem 2. Weltkrieg
( Quelle: Pressefoto)

 

Hugo Salzmann schildert seine Flucht und das Exil in Paris 



 

In einem einige Jahre später aus Paris an ihren Vater, ihre Schwester Ernestine („Tinnerl“) und deren Ehemann Peter in Stainz/Österreich geschriebenen Brief berichtete Julianna Salzmann von den Verhältnissen in Deutschland und ihrer Flucht. Sie versuchte, bei ihrer Familie Verständnis für ihre Emigration zu finden. Nach einigen warmherzigen Worten zu ihrer Familie, die sie seit zahlreichen Jahren nicht mehr gesehen hatte und mit der sie erst kurz zuvor in Briefkontakt getreten war, heißt es darin:

Brief von Julianna Salzmann vom 5. Dezember 1938 an ihre Familie in Österreich – Teil 1:    

„Lieber Vater, Tinnerl & Mann,
Deinen lieben Brief haben wir mit Freude erhalten und danken Dir, liebe Tinnerl, herzlichst. Du hattest mir viel geschrieben und so werde ich Euch auch viel antworten. Mit dem Bildchen habe ich große Freude und dass Ihr alle, besonders Vater, noch so wohlauf seid, hat mich am meisten gefreut. Du, liebe Tinnerl, und auch Vater habt Euch fast nicht verändert. Deinem Mann Peter sieht man es an, dass er ein lieber Mensch ist. Liebe Schwester & Schwager, nehmt von uns dreien die besten Wünsche zu Eurem Eheleben entgegen. Ja, Tinnerl, Du willst wissen, was ich von Dir geträumt hab, ich hab Dich und Frau Kollmann gesehen und Du hattest ein reizendes zweijähriges Töchterchen an der Hand. Ja von Herzen wünsche ich Euch einen Sohn oder Tochter. Nur Geduld, es wird schon noch etwas ankommen. Nannerl ist ein hübsches Mädl und sag ihr, sie soll sich nicht überstürzen. Sie hat ja noch Zeit bis sie einen Menschen findet, der es ehrlich mit ihr meint. Heute sind zwar solche Menschen dünn gesät, aber trotzdem findet man noch welche.
                                                                                                                                                                                       
So, jetzt will ich Euch einmal von mir, vielmehr von uns, erzählen.                                                                                                               

Du weißt, dass ich mich 1932 verheiratet habe. Wir hatten dort eine schöne Dreizimmerwohnung mit Küche. Es fehlte uns gar nichts, alles: Möbel, genug Wäsche, Geschirr hatten wir, Hugo hatte immer Arbeit, verdiente genug, um anständig leben zu können. Alles das war auf einmal und ist vorbei. Du wirst Dich vielleicht noch erinnern können, als ich Euch 1933 schrieb, da fing für uns und mit uns noch Millionen anderer Menschen ein schweres Leben an. Ich habe zwar nicht das Pech, mit einem Juden oder Halbjuden verheiratet zu sein. Nein, mein Mann ist reiner Arier, nach der Auffassung des heutigen Deutschlands. Aber wir sind eben auch in Paris gelandet, trotz Arier.
                                                                                                                                                    
Ja, liebe Schwester, zu schreiben, wie wir hierher  kamen, das kann ich nicht, das erzähl ich Euch alles später einmal. Wenn wir uns wiedersehen?“ 

Dieses Versprechen hat Julianna nicht einlösen können, ihre Familie in Österreich konnte sie nie wiedersehen.

 

 

Schwerer Anfang im französischen Exil.

 

Hugo Salzmann mit seinem Sohn Hugo in Paris, 1934 (Quelle: privat)

Nicht nur die Flucht mit dem 6 Monate alten Jungen war sicherlich sehr beschwerlich, die Emigrantenzeit in Paris war es erst recht. Die Salzmanns waren wie die politischen Emigranten überhaupt die ersten, die gegen Hitler und den aufkommenden Nationalsozialismus gekämpft hatten, die wegen ihrer Gegnerschaft Deutschland hatten verlassen müssen, um im Exil den Kampf fortzusetzen oder ggf. auch „nur“ um das Ende der NS-Herrschaft abzuwarten. Im Exil erwarteten sie Jahre der Not und auch der Verzweiflung. Denn den meisten, so auch den Salzmanns, war ein sehr dürftiges Leben beschieden. Einen Eindruck von den Schwierigkeiten der Emigrantenzeit vermittelt der zweite Teil des Briefes, den Julianna an ihre Familie in Österreich Ende 1938 schrieb.Darin heißt es: 

Brief von Julianna Salzmann vom 5. Dezember 1938 an ihre Familie in Österreich – Teil 2: 

„Liebe Tinnerl, Du fragst, ob es uns gut geht. Das muss ich mit nein beantworten. Wir haben jetzt fünf Jahre größter Entbehrungen hinter uns, ein Leben ohne Arbeit und Rechte. So eine Zeit, das könnt Ihr Euch gar nicht vorstellen. Und trotzdem haben wir Mut und sind überzeugt, dass wir es einmal wieder so bekommen wie früher. Natürlich haben wir unsere ganze Wohnung, Wäsche, Geschirr also alles, was wir hatten, verloren. Unser Kleiner war damals sechs Monate alt, als er fort musste. Ja, es waren Zeiten, die man nie vergessen kann. 
                                                                                                                                                                                         
Aber Hugo ist ein lieber und anständiger Mann, wir verstehen uns sehr gut und ich gehe, wohin es auch nur ist, mit ihm.                       
Siehst Du, liebe Tinnerl, so ist das Leben. Hier in Frankreich ist es für Ausländer auch schlimm, denn trotzdem wo Hugo einen guten Beruf hat, darf er nicht arbeiten.
                                                                                                                                                                            
Jetzt möchte ich Euch etwas fragen, und ich hoffe, dass Ihr mir darin bald Antwort gebt, ob ja oder nein. Wir bräuchten notwendig eine Hilfe und, wenn es geht, dass Ihr uns manchmal 10 Reichsmark schicken könntet, wäre ich Euch dankbar. 
                                      
Wir könnten es Euch bei späteren Verhältnissen wieder zurückgeben. Wenn einer von Euch einen Pass hat, so könnt Ihr mir als Eurer Schwester 10 Reichsmark zukommen lassen. 
                                                                                                                                            
Liebe Tinnerl, ich möchte aber nicht gern, wenn Luis oder Mitzi wieder über mich urteilen, denn Ihr alle könnt vielleicht unser Leben von heute nicht verstehen. Das, was ich verlange, ist auch weniger für Hugo und mich, sondern für unseren kleinen Hugo, damit er ein bisschen besser essen könnte...“

Die von Julianna Salzmann angesprochenen Probleme der kleinen Familie und der Emigranten ganz allgemein muss man dabei vor dem Hintergrund der innenpolitischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Frankreich sehen. Denn die Ausländer und gerade die Emigranten aus Deutschland waren im Frankreich jener Jahre in besonderem Maße abhängig von der Situation dort.

Die Hypothek des Ersten Weltkrieges lastete schwer auf diesem Verhältnis, und es kam weiteres hinzu. Frankreich hatte zwar 1918 gesiegt, aber außerordentliche Verluste an Menschenleben und Material erlitten; es war praktisch pleite. In der Öffentlichkeit verbreitete sich die Vorstellung, dass „Deutschland alles zahlen wird“ („l’Allemagne paiera“). Das war das Motto, mit dem Frankreich umfangreiche Reparationszahlungen und Sachleistungen einforderte. Doch in zahlreichen Punkten mussten die Franzosen den anderen Siegermächten England und die USA Zugeständnisse machen. Als Frankreich 1923 wegen ausbleibender Reparationsleistungen das Rheinland besetzte, isolierte es sich gegenüber den Briten und Amerikanern. Außerdem war die Besetzung ein wirtschaftliches Desaster – auch für Frankreich. Immerhin erholte sich die französische Wirtschaft gegen Ende der 1920er Jahre und es gab sogar einen Aufschwung. Der Aufwärtstrend hielt sogar noch nach dem New Yorker Börsenkrach am „Schwarzen Freitag“ Ende Oktober 1929 an. Dann erreichte die Weltwirtschaftskrise aber doch noch Frankreich -  allerdings später als die anderen Länder und auch nicht ganz so dramatisch wie diese.

Aber die schwächelnde Wirtschaft hatte zwei schwerwiegende Folgen: Die erste bestand in einem Preisverfall, vor allem der Großhandelspreise. Das wirkte sich auf die Situation der Emigranten aber nicht weiter aus. Anders war es mit der zweiten Folge: Um wettbewerbsfähig zu sein, versuchten die Unternehmer noch mehr als sonst die Lohnkosten zu senken. Das führte zu Entlassungen. Das Gespenst der Arbeitslosigkeit ging um und sollte Frankreich bis zum Zweiten Weltkrieg nicht mehr in Ruhe lassen. Während die Franzosen auf dem Land damit noch besser fertig werden konnten – weil sie zum großen Teil von der Arbeitslosigkeit gar nicht betroffen waren bzw. sich besser helfen konnten zu überleben -, war die Situation in den Groß- und Industriestädten sehr viel schwieriger. Die Arbeitslosigkeit traf vor allem die Arbeiter und sie waren nicht in der Lage, politischen Druck auszuüben. Denn die Gewerkschaftsbewegung spielte eine nur untergeordnete Rolle: Von den etwa 12,5 Millionen Beschäftigten war nicht einmal eine Million gewerkschaftlich organisiert – wobei dazu noch die gut organisierten Beamten gehörten, die angesichts ihres sicheren Arbeitsplatzes ohnehin nicht streikfreudig waren. Wie sollten da wirkungsvolle Streiks organisiert werden?!

Unter diesen Umständen kämpfte man – wenigstens - darum, dass die vorhandenen Arbeitsplätze allein den Franzosen vorbehalten bleiben sollten. Das Schlagwort hieß: „Frankreich den Franzosen!“ Man wollte die Arbeit nicht mit anderen teilen. Konsequenterweise wurde 1933 die Einwanderung gestoppt. Bald schickte man ganze Züge voll polnischer Bergarbeiter in ihre Heimat zurück. Bei Juristen und Ärzten machte sich Fremdenhass breit gegen die Juden, die kurz zuvor nach Frankreich gekommen waren.

Im selben Jahr – im Frühsommer 1933 – kamen dann die Salzmanns nach Paris. Sie wurden zwar nicht zurückgeschickt, aber willkommen waren sie nicht.  In Paris lebten schätzungsweise 8.000 Männer und Frauen, die vor politischem Terror und Rassenhass aus Deutschland geflohen waren, das war ein Drittel der deutschen Emigranten in Frankreich. Kein anderes Land nahm so viele deutsche Flüchtlinge auf wie Frankreich.

Die Schwierigkeiten für Deutsche wie Hugo Salzmann und seine kleine Familie begannen schon mit der Sprache. Denn weder er noch seine Frau konnten keine bzw. nur wenige Worte Französisch. Nach der Ankunft galt es zuerst, eine Unterkunft zu finden. In einem einfachen Hotel, einem Dienstbotenzimmer, in einer nicht zu teuren Wohnung oder bei Freunden. Bevorzugt waren das 13. und das 14. Arrondissement, die Straßen um die Place d’Italie und südlich des Boulevard Montparnasse. 

Ob die Salzmanns dort ebenfalls unterkamen, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Diese ersten zwei, drei Jahre ihrer Emigration liegen insgesamt gesehen im Dunkeln. Wenn im Nachhinein auch viel von Solidarität und Unterstützung durch die Leitung der deutschen Kommunisten und die Rote Hilfe für die Emigranten die Rede war, so haben jedenfalls die Salzmanns davon zunächst kaum etwas gemerkt. Sie waren weitgehend auf sich allein gestellt. Das mag daran gelegen haben, dass man erst nach und nach eine Unterstützerorganisation aufbaute und dann den Aufbau forcierte, nachdem die Volksabstimmung im Saargebiet am 13. Januar 1935 ein überwältigendes Votum für die Rückgliederung des Saargebiets an das Deutsche Reich gebracht hatte („Die Saar kehrt heim!“). Dadurch mussten die zunächst im Saargebiet gebliebenen reichsdeutschen Emigranten weiter fliehen und die saarländischen politischen Gegner der Nazis ebenfalls das Land verlassen.Ihr Ziel war dann oft das benachbarte Frankreich, vor allem dessen Hauptstadt Paris.
  
Der Aufenthalt dieser Flüchtlinge wie der Salzmanns war in rechtlicher Hinsicht generell völlig ungesichert. Ein aus dem 19. Jahrhundert stammendes Fremdengesetz sah vor, dass Nichtfranzosen, die sich länger als zwei Monate in Frankreich aufhalten wollten, eine persönliche Kennkarte (Carte d’Identité) haben mussten. Flüchtlinge wie die Salzmanns, die über die „grüne Grenze“ gekommen waren, konnten sie schon von vornherein nicht erhalten. Denn sie mussten hierfür nachweisen, mit einem gültigen Visum über einen offiziellen Grenzübergang eingereist zu sein – und überdies über genügend Geldmittel zu verfügen, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Unter diesen Umständen blieb den Geflohenen praktisch nur die Illegalität. Ohne Aufenthaltserlaubnis gab es auch keine Arbeitserlaubnis, zumal diese einen mindestens fünf Jahre langen Aufenthalt in Frankreich voraussetzte. Damit blieb ihnen der offizielle Arbeitsmarkt verschlossen.

Immer war man von Ausweisung bedroht. Auch die Salzmanns waren betroffen. Sie hatten die Ausweisung schon zweimal erhalten. Zu ihrem Glück verbürgte sich der kommunistische Abgeordnete Jacques Duclos für sie. Trotzdem mussten sie alle vier Wochen zur Präfektur, um sich dort eine Duldung für vier weitere Wochen zu holen. Das ging dann Monat für Monat so weiter.

Immerhin gelang es Emigranten wenigstens von Zeit zu Zeit, schlecht und unter Tarif bezahlte Schwarzarbeit in den Markthallen oder als Reinigungskräfte oder in Haushalten zu erhalten. Folgt man der Schilderung Hugo Salzmanns, die er Jahre später in einem Verhör gab, dann hatte er alsbald bei einem jüdischen Kaufmann namens Jacques Burstein oder Burztein einen Aushilfsjob als Packer und Bote in dessen Konfektionsgeschäft gefunden. Als Wochenlohn erhielt er dafür 100 bis 130 Francs – bis sich beide zerstritten und Hugo Salzmann diesen Job wieder los war.

Die sehr beengten Wohnverhältnisse und die notgedrungene Untätigkeit trieben die Emigranten auf die Straßen von Paris und insbesondere in die Cafés und Bistros. Hugo Salzmann ging es da nicht anders als den anderen Flüchtlingen. Aus eigenem Erleben konnte er darüber berichten.

Hören Sie hier ein zeitgenössisches Musiktück aus dem Widerstand: Chant des Marais (Moorsoldatenlied)

Bericht Hugo Salzmanns  über die Die „gute“ Tat des Pariser Clochards  -Teil 1 - 

„Eine der belebtesten Straßen von Paris ist die Strecke vom Platz der Republik – Porte St. Martin – Porte St. Denis. Gegenüber der Metrostation St. Denis liegt das Café „Tout va bien“, das in den Jahren 1933 bis 1936 ein beliebter Treffpunkt deutscher Emigranten war. 

Nach der Machtübernahme durch Hitler und der darauf folgenden brutalen Verfolgung aller Antifaschisten flüchteten Tausende nach Frankreich. Nach der „Status quo“-Abstimmung 1935 im Saargebiet strömten erneut tausende deutsche und saarländische Emigranten über die Grenze nach Frankreich, hauptsächlich nach Paris. Paris aber, d.h. die Hilfsorganisationen wie „Rote Hilfe“, linke Parteien, Gewerkschaften usw. waren finanziell nicht in der Lage, allen Genossen helfen zu können. Trotz der großartigen Solidarität von französischen Arbeitern, kleinen Geschäftsleuten, vielen Hotelbetrieben, die alle versuchten, gesuchten Antifaschisten ein illegales Quartier oder ein warmes Essen zu besorgen, gab es viele, die wochenlang kein warmes Essen sahen. Der Hunger war groß. Ein Lichtblick war hier jedoch das Café „Tout va bien“. Man traf sich dort nicht nur, um das Tagesgeschehen zu diskutieren, oh nein. Man bestellte eine Tasse Kaffee, konnte so viele Zuckerstücke nehmen wie man wollte und durfte außerdem  noch unentgeltlich Weißbrot aus dem stets gefüllten Brötchenkorb nehmen. Das freundliche Personal hatte Sympathie und Verständnis für die hungernden Emigranten. Wochenlang waren diese Tassen Kaffee und die Brotscheiben das einzige warme Essen am Tag.“

An solchen Treffpunkten konnte die Polizei die unerwünschten Gäste ohne Mühe im Auge behalten. Über die Besucher des „Dome“ heißt es in einem Polizeibericht von Oktober 1933:

Bericht der Pariser Polizei von Oktober 1933 über die Emigranten in einem Café/Bistro:

„Ein wichtiger Teil der Kundschaft dieses Etablissements besteht zurzeit aus israelitischen Flüchtlingen, zu denen eine gewisse Anzahl von Schriftstellern und Journalisten der Avantgarde gehört, Kommunisten, Sozialisten, Libertäre, integrale Pazifisten usw. und im Allgemeinen Feinde der Hitlerischen Diktatur. Ihren Überzeugungen entsprechend, vereinigen sie sich in Gruppen von 5 bis 10 Personen, und ihre Diskussionen in deutscher Sprache erreichen manchmal eine Lautstärke, die die Aufmerksamkeit französischer Gäste erregt und gelegentlich das Einschreiten des Geschäftsführers nötig macht.“

 

Lore Wolf, eine gute Freundin der Salzmanns, schildert die Angst der Emigranten vor den Ronders:

„Die Flics hatten eine besondere Polizeitruppe, die hauptsächlich Emigranten jagte. Sie trugen wasserdichte, dunkle Umhänge, komische Radmützen und fuhren auf Fahrrädern durch die engen Straßen der Arrondissements, in denen sie Emigranten vermuteten. Meist kamen sie zu zweit von oben oder unten in eine Straße hineingefahren, warfen plötzlich ihre Räder mitten auf den Weg, stürzten auf die Passanten zu und ließen sich deren Ausweise zeigen. Jeder, der sich nicht ausweisen konnte, wurde sofort mitgenommen. Alle Emigranten wussten das. Immer in Angst, bewegten sie sich unsicher auf den Straßen, was den erfahrenen Flics natürlich auffiel. Oft kam es vor, dass Emigranten vor Hunger auf der Straße zusammenbrachen. Dann wurden sie von den Flics mitgenommen.
                                                    
Ich flüchtete meist in ein Bistro. In einen Hauseingang konnte man sich nicht stellen, da die Concierge, die Hauswirtin, meist Mitarbeiterin der Polizei war. In einem Bistro war man sicher, da die Flics keine Berechtigung hatten, in Gaststätten oder Geschäften Gäste zu belästigen. Aber ich besaß kein Geld, mir einen Kaffee zu kaufen, und musste so rasch wie möglich das Bistro wieder verlassen. Oft entging ich nur mit knapper Not den Menschenjägern.“
(zitiert nach: Lore Wolf: Ein Leben ist viel zu wenig, a. a. O., Seite 62)  


Eine wichtige Funktion für die Emigranten hatten auch die Suppenküchen. Sie sorgten nicht nur für eine mehr oder minder häufige warme Mahlzeit, sondern waren auch ein Treffpunkt zum Austausch von Informationen und Meinungen mit anderen deutschen Flüchtlingen, geradezu ein Stück Heimat. 

Bericht Hugo Salzmanns  über die Die „gute“ Tat des Pariser Clochards  -Teil 2 -

„1935/36 war es der deutschen Emigrationsleitung gelungen, in der Nähe der Metrostation St. Denis im Gassengewirr der schmalen Geschäftspassagen zwei Räume zu finden, in denen die „Emigrantenküche“ eingerichtet wurde. Nun war den deutschen Antifaschisten ein warmes Eintopfessen täglich gesichert.

Der Antifaschist Paul, im Ersten Weltkrieg beinamputiert, war der Gestapo in der Pfalz nur knapp entkommen. Eine Aufenthaltsgenehmigung bekam er von der Präfektur in Paris nicht bewilligt. Nun lebte er illegal bei französischen Genossen. Paul war als Provinzler in dieser Millionenstadt verloren. Aber Genossen, die sich in Paris schon auskannten, halfen ihm. Beim Ausgehen begleitete ihn stets ein Ortskundiger. Er sollte Selbstsicherheit lernen. Es ist furchtbar schwer, in einem fremden Land leben zu müssen, dessen Mentalität man nicht kennt, dessen Sprache man nicht spricht und in einer ungewohnten, überraschenden Situation muss man auch noch versuchen sich anzupassen, das gibt Probleme und auch Unsicherheit.

Paul wartet auf seinen Begleiter. Er wartet und wartet. Der Zeiger seiner Uhr geht auf Mittag. Der Genosse kommt nicht. Es gibt doch nur das eine warme Essen. Der Hunger wird immer größer. Das Sehnen, einige Stunden unter Gleichgesinnten zu sein, in der eigenen Sprache zu sprechen, nämlich so, wie die pfälzer Zunge gewachsen ist, zu hören, ob es gute oder schlechte Nachrichten über Freunde im Hitlerstaat gibt. (...)

Ruck-zuck, Paul greift die Krücken – ich, Paul, werde den Weg zur Emigrantenküche schon finden. Schon steigt er die Treppenstufen zur Metro hinab und findet seine Metrolinie Porte St. Denis. Bei jeder Einfahrt in eine Station suchen Pauls Augen an den Tunnelwänden den Namen der jeweiligen Station. – Ah, endlich, ich hab’s, hier ist Porte St. Denis. Geschwind aus dem Wagen. Treppe rauf aus dem Tunnel. Ans Licht – an die Tageshelle!

Schweißtriefend die Treppe nehmend, steht er schon mitten im treibenden Leben der großen historischen Stadt Paris und deren Bewohner. Es ist Mittag, die Bürgersteige ein Ameisenhaufen voller eiliger Menschen. Restaurants, Café überfüllt. Paul stützt sich tief Atem holend auf das Geländer des Metroausgangs. Immer den Blick auf den Menschenstrom. – Hab‘ nie geglaubt, so einmal Paris zu sehen. Ich, der deutsche Antifaschist, ein Illegaler, hier in der heldenhaften Stadt, das Paris der ersten Kommunarden!

Neben Paul hatte sich ein Clochard platziert. Eilig springt er mit seinem Hut in der Hand von einem Passanten zum anderen. Bittet um einige Centimes. Paul wundert sich. Gerade der Clochard, als einziger Mensch von den vielen, die vorbeiströmen, lächelt und winkt ihm zu. Ja, macht auch ab und zu eine Handbewegung zu Paul hin, mit äußerst trauriger Mimik.
 
Also jetzt zur Küche,  höchste Zeit! -  Paul greift seine Krücken. In diesem Moment eilt der Clochard zu Paul. Redet lachend, gestikulierend, überschwänglich auf ihn ein. Paul versteht kein Wort. Da drückt ihm der Clochard seinen Hut mit dem gesammelten Geld in die Hand. Heftig gestikulierend zählt er die Münzen. Paul wird unruhig. – Was will der nur? – Der Clochard zählt nun Münze um Münze in Pauls Hand. Es war genau die Hälfte seiner Sammlung. Schnappt seinen Hut und verschwindet im Menschengedränge. Paul ist überrascht. – Wie kommt ein Fremder zu einer solch menschlichen Handlung? Und noch dazu ein Clochard? Die sind doch gar nicht so gut angesehen! 

Doch da kommt ihm ein Gedanke. Blitzschnell nimmt er seine Krücken. – So ein Bruder! Darum hat er mir zugelacht! So ein Bruder – hat auf mein Bein und die Krücken gefechtet! Paul, hau ab! Du bist illegal hier – Spielball der Präfektur – menschliches Freiwild - nur eine Nummer in der Polizeikartei! – Bist du schon aufgefallen? Beobachtet dich jemand? – Schnell weg, bevor dich die „Ronders“ erwischen. Wenn sie zu zweit, per Fahrrad, mit den flachen Mützen auf dem Kopf aus zwei entgegengesetzten Richtungen zur Kontrolle des Personalausweises auf einen zukommen, dann gibt es keine Möglichkeit mehr zu entwischen.  Paul, lauf schnell, schnell mit deinem einen Bein! Wenn die dich schnappen…. Verhaftet, zur Präfektur, Prison de Santé… und dann Abschub zur Grenze, d.h. Auslieferung. Das bedeutet KZ-Tod!

Paul rennt so gut es geht. Er kennt die Musik seiner Krücken. Tick–tack, tick-tack, so schallt’s vom harten Bürgersteig her. Das Aufsetzen der Stöcke wird immer schneller, immer kürzer hallt’s: tick-tack,tick-tack… - Halt, hier ist der Eingang zu den Geschäftspassagen. Ja, dort an der Ecke, der unauffällige Eingang der Emigrantenküche. Paul öffnet die Tür – „Eintopfaroma“, Stimmengewirr. Lachen. Heitere und ernste Augen schauen ihn an. Er wischt den Schweiß von der Stirn. Holt tief Atem. Lacht alle an. Die Angst ist weg. – Hier bin ich sicher, geschützt. Unter meinesgleichen, ebenfalls gehetzt, ruhelos.
 
Der Genosse „Küchenchef“ stürzt zu Paul. Führt ihn zum Tisch. Rückt den Stuhl zurecht. Stellt die Krücken in die Ecke. „Na, Paul, heut‘ kommst du aber etwas spät! Hast’e Schmerzen im Bein?“ Paul schüttelt den Kopf. „Nee, nee, mir ist ein tolles Ding passiert…, ich hätt‘ können hops gehen!“

Alle horchen auf. Das geht jeden an. Totenstille. Kein Geschirrklappern, Reden, Lachen mehr. Paul greift in die Tasche, zählt wortlos eine Menge Kleingeld auf den Tisch. „Der Paul hat Geld? Kleingeld zählt er?“ – „Da staunt ihr, was?“ Und er erzählt. „Freunde, das war ein gerissener Clochard! Und trotzdem… ein feiner Kerl. Er hat mit mir geteilt!“ Schweigen im Kreis der Gehetzten.

Ruhig schiebt Paul das Häuflein Kleingeld zum „Küchenchef“. „Nimm’s, Freund, für uns alle. Kauf ein, für ein neues Essen.“ Sie hatten alle still zugehört. Für einen Moment: Betroffenheit. „Paul gibt sein Geld her? Für uns alle?“ Wer hätte sich in dieser Not nicht gefreut, ein bisschen Geld zu haben. 

Und dann – aufbrausende Begeisterung. Lachen. Der „Küchenchef“ klopft Paul auf die Schulter: „Bist ein feiner Junge! Solidarität, Genossen, ist unsere Kraft. So gewinnen wir unseren Kampf gegen Hitler und den Faschismus!“ Lange saß man beisammen. Es war ein besonderer Tag.“

Stadtplan Paris ca. 1900

Die Lage auch für die deutschen Emigranten verschärfte sich noch durch einen politischen Finanzskandal, der als „Affäre Stavinsky“ eine der heftigsten Erschütterungen der Dritten Republik auslöste. Es war die schlimmste Konfrontation zwischen Links und Rechts in Paris seit dem Aufstand der Pariser Kommune 1871. Im Mittelpunkt der Affäre stand ein zwielichtiger Geschäftemacher und gewiefter Hochstapler rumänischer Abstammung, der unter dubiosen Umständen die französische Staatsbürgerschaft erworben und dann eine Vielzahl von Betrügereien offenbar mit guten Beziehungen zu Politikern begangen hatte. Als die Polizei ihn schließlich in einer Villa in Chamonix stellen wollte, lag er bereits im Sterben. War es Selbstmord oder Mord?
 
Die Öffentlichkeit forderte Aufklärung. Die Anhänger militanter Gruppen der extremen Rechten, der „Action française“, der „Jeunesse patriotes“ sowie der einzigen Massenbewegung der „Ligue de Croix-de-feu“ („Feuer-Kreuzler“) und die Nationalen Union der Kriegsteilnehmer unternahmen  am 6. Februar 1934 einen „Marsch auf das Palais Bourbon“ (den Sitz der Abgeordnetenkammer, „Chambre des Députés“). Gleichzeitig gingen auch die Kommunisten und linke Veteranen gewalttätig auf die Straße. Die Bilanz waren mindestens 15 tote Demonstranten, ein getöteter Polizist und rund 1.500 Verletzte. Die Zeitungen nannten es: „Bürgerkrieg“ und „Aufruhr von Faschisten und Kommunisten“.

Dieser Korruptionsskandal eines zu den Einwanderern zählenden eingebürgerten Rumänen hatte auch eine ausländerfeindliche Kampagne und eine Verschärfung der Fremdengesetzgebung zur Folge. Gegen Tausende meist deutscher Emigranten ergingen Ausweisungen.
 
In den Debatten des Parlaments bezeichneten vor allem kommunistische und sozialistische Abgeordnete die Praxis der Polizei als „Methode von unglaublicher Brutalität“, „Unredlichkeit ohnegleichen“ und man handle nach der Maxime: „so viel auszuweisen wie man kann, mit allen Mitteln“. 

Während Frankreich so eine in verschiedener Hinsicht krisenhafte Entwicklung durchmachte – von Mai 1932 bis April 1938 erlebte es allein 15 Regierungskrisen -, gab es in Bezug auf die Kommunisten dort – und zwar sowohl bei den Emigranten als auch bei den französischen – wichtige Veränderungen. 
 
So hatte sich im Frühjahr 1933 eine Auslandsleitung des Zentralkomitees der KPD bestehend aus Wilhelm Pieck, Wilhelm Florin, Franz Dahlem (ab Herbst 1933 auch Walter Ulbricht) in Paris gebildet. Außerdem richtete die KPD eine Emigrationsleitung in Paris ein.

Die Verbindung zwischen der Emigrantenleitung und dem Zentralkomitee der KPD stellte der Emigrantenleiter her. Die Emigrantenleitung wechselte wiederholt. Leiter der Emi war bis Ende 1937 August Hartmann (Deckname „Langer August“). Als er zu den Internationalen Brigaden zum Kampf im Spanischen Bürgerkrieg gegen den aufständischen General Franco meldete, wurde ein Funktionär mit dem Decknamen „Schrecklich“ (gemeint ist wohl Walter Schrecker) sein Nachfolger. 

Nach kurzer Zeit trat an dessen Stelle Philipp  Holzmann (Deckname: „Schwarzer Philipp“). Ihm folgte im März oder April 1938 der ehemalige Reichstagsabgeordnete Siegfried Rädel. Jedenfalls in dieser Zeit befand sich das Büro der Emi-Leitung in der Rue Venaigre Nr. 59. Der Leitung gehörten weitere Personen an, die ebenfalls wiederholt wechselten und die einen bestimmten Aufgabenbereich hatten.
 
Im Zeitraum 1936/37 war Albert Gromulat Sekretär des Emi-Leiters,  ein Funktionär mit dem Decknamen „Eduard“ (möglicherweise Eduard Hantke) war für die Überprüfung der neu ankommenden Emigranten zuständig, Fritz Nikolay war Leiter der „Freien deutschen Jugend“, Hilde Muth und Ida Groh kümmerten sich um die Ehefrauen der im spanischen Bürgerkrieg in den Internationalen Brigaden kämpfenden deutschen Emigranten, Arthur Huwe war Kassierer der Emi-Leitung und wurde dann von Friedrich Hey abgelöst. Hugo Salzmann gehörte seit Mitte der 1930er Jahre zu dieser Emi-Leitung im weiteren Sinne und war verantwortlich „für den technischen Apparat“.  Im März 1937 löste er den bisherigen Litobmann Wilhelm Fey (Deckname „Moritz“) ab.

Diese Zuständigkeiten lassen schon wichtige Aufgaben der Emi-Leitung erkennen. Sie war vor allem für die Über- prüfung und Erfassung der aus Deutschland und dem Saargebiet  geflüchteten Kommunisten verantwortlich, wehrte Gestapo-Spitzel ab, leistete Aufklärungsarbeit bei der Pariser Bevölkerung, vertrieb antifaschistische Literatur, hielt Schulungen zu aktuellen Themen und zum Marxismus-Leninismus ab und sorgte außerdem für den Einsatz der deutschen Kommunisten zur politischen Arbeit in ganz Frankreich. 
 
Die Emi-Leitung finanzierte sich vor allem durch Solidaritätsbeiträge. Dieser betrug für jeden in Arbeit stehenden kommunistischen Emigranten wöchentlich 2 Francs und wurde auch von allen mit der Emi-Leitung in Verbindung stehenden Emigranten gezahlt. In Paris kamen monatlich etwa 1.500 Francs an Beiträgen zusammen, aus der Provinz waren es ca. 500 bis 1.000 Francs. Zuletzt – nach einer Werbeaktion – waren es etwa 4.000 Francs bzw. 1.000 Francs.  Außerdem hatten die Emigranten, die in Deutschland Mitglied der KPD gewesen waren, einen Parteibeitrag an die Emi-Leitung zu leisten. Weitere Zuwendungen erhielt die Emi-Leitung von der französischen „Roten Hilfe“.

Diese war u.a. für den Einsatz der deutschen Kommunisten zur politischen Arbeit in ganz Frankreich verantwortlich, überprüfte neu ankommende Emigranten, wehrte Gestapo-Spitzel ab, leistete Aufklärungsarbeit bei der Pariser Bevölkerung, vertrieb antifaschistische Literatur, hielt Schulungen zu aktuellen Thema und zum Marxismus-Leninismus ab usw. Im Rahmen dieser Emigrationsleitung (kurz: Emi-Leitung) war Hugo Salzmann verantwortlich für den „technischen Apparat“

Die Emi-Leitung stellte dabei für die Zukunft der deutschen Kommunisten wichtige Weichen. Für manche, vor allem Kranke, bemühte sie sich um ein Visum in die Sowjetunion, anderen erteilte sie den „Parteiauftrag“, nach Deutschland zurückzukehren und dort illegal zu arbeiten, wieder andere durften in Frankreich bleiben und Parteiarbeit leisten. Solchen Verwendungen und ihren Vorschlägen war eine kleine Biografie vorangestellt.

Über die schon erwähnte Lore Wolf heißt es, sie sei Bezirksleiterin der Roten Hilfe in Frankfurt/Main und in der Illegalität „Rote Hilfe-Agitprop und Kassiererin“ gewesen. Auf Veranlassung des ZV (Zentralverbandes?) der Roten Hilfe Deutschland sei sie in die Emigration ins Saargebiet im August 1934 gegangen. Grund dafür sei ihre „Herausziehung (…) im Zusammenhang mit den umfangreichen Verhaftungen im Frankfurter Bezirk (gewesen)“. 
  
Auch zu Hugo Salzmann findet sich ein solcher Eintrag, und zwar auf der Liste der „Unterstützten, für die wir keine konkreten Vorschläge machen können“. Darin heißt es: „Metallarbeiter, (…), Funktion: Stadtverordneter und Poll. Emigriert im März 33. Gründe: War 26 in einen Prozess verwickelt. Hat einen Haftbefehl wegen Waffenbesitz. Einer Aufforderung, ins Saargebiet zu gehen, kam er nicht nach. Genossen aus seiner Heimat bestätigen seine Funktion, erklären jedoch, dass er ohne Genehmigung fortging. Für ihn steht die Frage der Rückkehr.“

Vater und Sohn Hugo Salzmann, um 1935 (Quelle: privat)

Wie wir wissen, sind diese Angaben zum Teil falsch. Interessant ist aber zu sehen, wie die Emi-Leitung hier Schicksal spielte bzw. spielen wollte. Sie war es, die den Einsatz ihrer Leute anordnete. So sollte Salzmann im Auftrag der Partei illegal ins Deutsche Reich zurückkehren und dort Untergrundarbeit für die KPD leisten. Er konnte diesen Parteiauftrag abwenden – wahrscheinlich unter Hinweis auf die Situation mit seiner Frau und ihrem Kleinkind. Auch mag ihm zustatten gekommen sein, dass er als „technischer Leiter“ der Emi-Leitung nützlich war. Dessen ungeachtet war seine Position in dem innenpolitisch sehr unsicheren Frankreich nicht einmal bei seinen Leuten ungefährdet, denn für ihn stellte sich die Frage nach seiner Rückkehr nach Nazi-Deutschland – aus dem er zwei Jahre zuvor unter Lebensgefahr geflohen war.

Die im gesamten Stadtgebiet von Paris bei der Emi-Leitung registrierten deutschen Kommunisten waren in ca. acht Gruppen organisiert. Ihnen standen Gruppenleiter vor, die für den Zusammenhalt der Emigranten, für allwöchentliche Schulungsabende und für Geldsammlungen zugunsten der Emi-Leitung sorgten. Gruppenleiter waren etwa: Rudi Feistmann, Leiter der Gruppe 1 (Pariser Stadtbezirk 4, 5 und 6), Herbert Müller, Leiter der Gruppe für den 10., 11. und 12. Pariser Stadtbezirk, Josef Ketterer (Deckname „Max“), Leiter der Gruppe für den Pariser Stadtbezirk 13 und den Vorort Gentilly, Philipp Holzmann, Leiter der Gruppe für den 13., 14. und 15. Pariser Stadtbezirk, Albert Grumelat, Leiter der Gruppe für den 17., 18. und 19. Pariser Stadtbezirk. Die Themen für die Schulungsabende erhielten die Gruppenleiter vom Emi-Leiter vorgeschrieben. 

In nicht vielen, aber in manchen anderen Orten Frankreichs gab es weitere solcher Gruppen, so in: Monteloucon (Gruppenleiter Franz Schramm), Bordeaux (Gruppenleiter ein gewisser Hahn), Marseille, Lyon, Cherbourg, Chartres, Chambray, Charbonnier, Fümel-Libos, Gondom, Nantes und La Roche s. Y.

Unterdessen war die Kommunistische Partei Frankreichs (KPF) zur wichtigsten kommunistischen Organisation außerhalb der Sowjetunion geworden. Ihre Bedeutung wird auch darin deutlich, dass die III. (Kommunistische) Internationale (Komintern) ihr Westeuropa-Büro von Berlin nach Paris verlegt hatte. Die bürgerkriegsähnlichen Tumulte der extremen Rechten bei dem „Marsch auf das Palais Bourbon“ am 6. Februar 1934 hatte die Linke endgültig aufgeschreckt. Die Sozialisten und Kommunisten sahen darin den Versuch eines faschistischen Staatsstreichs und drängten ihre Parteiführungen zum gemeinsamen Gegenhandeln. Schon eine Woche später riefen beide Parteien unabhängig voneinander zu einem eintägigen Generalstreik auf, der auch erfolgreich war. Noch Mitte des Jahres ließen die Kommunisten die auch in Frankreich bis dahin geltende „Sozialfaschismusthese“ fallen und Sozialisten und Kommunisten schlossen einen „Aktionspakt gegen den Faschismus“.  

Die rigorose Deflationspolitik der Rechten (u.a. Senkung aller Staatsausgaben – damit auch der Gehälter und Pensionen der Beamten – sowie der Preise für staatliche Dienstleistungen um 10 %), der Abschluss des Französisch-Sowjetischen Beistandspaktes und die Bildung eines Volksfrontbündnisses aus Sozialisten, Radikalsozialisten und Kommunisten schufen für die Linken ein positives Klima. Zusammen mit den Gewerkschaften und antifaschistischen Aktionskomitees erarbeiteten die drei Parteien ein gemeinsames Wahlprogramm und präsentierten sich zu den Wahlen Ende April/Anfang Mai 1936 unter der Parole „Brot, Frieden, Freiheit“.

Tatsächlich siegte das Volksfrontbündnis, wenn auch nicht so spektakulär wie erwartet. Die Sozialisten waren stärkste Partei. Die KPF konnte ihre Wählerstimmen fast verdoppeln, die Zahl ihrer Abgeordneten steigerte sie von 12 auf 72. Der Triumph löste landesweit Streiks von „volksfestähnlichem Charakter“ aus. Es gab eine unerwartete soziale Explosion – für die neue Regierung eine Schwierigkeit, mit der sie nicht gerechnet hatte.

Neuer Regierungschef wurde der Sozialistenführer Leon Blum. Trotz Volksfrontbündnis weigerten sich die Kommunisten, in die Regierung einzutreten, aber sie versicherten ihr ihre Unterstützung. Wichtige soziale Reformen wurden durchgesetzt: Es gab Lohnerhöhungen, die Arbeitgeber erkannten die Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer an und stimmten der Wahl von Betriebsräten zu. Gesetzlich eingeführt wurde die 40-Stunden-Woche ebenso wie der zweiwöchige bezahlte Jahresurlaub. Dieses politische Klima tat auch – so will es jedenfalls nach den erhalten gebliebenen Fotos scheinen – der kleinen Familie Salzmann gut. Sicherlich lebten die drei weiterhin in sehr bescheidenen, ärmlichen Verhältnissen, aber sie hatten ihre Würde wieder gefunden. In ihrem Sonntagsstaat machten die drei eine wirklich gute Figur – fast ist man beim Betrachten der Bilder an den Spruch erinnert: „Arm, aber sauber“.

Hugo, Julianna und Klein-Hugo in Paris, März 1935  (Quelle: privat)

Offenbar hatte sich Hugo Salzmann mit seiner Familie recht und schlecht in der Illegalität eingerichtet. An das Verbot politischer Betätigung im Gastland wollte er sich – wie viele andere Emigranten auch – nicht halten. Wenigstens hier im Ausland wollte man sich von den Nazis nicht mundtot machen lassen, sondern die eigene Identität bewahren und Sprachrohr sein für das andere, das bessere, das in der Heimat so gut wie zum Schweigen gebrachte Deutschland. So war Hugo Salzmann im Jahr 1935 in der von Heinz Renner geleiteten Anlaufstelle für politische deutsche Widerständler in Paris tätig. Auch gelang ihm, seine Position als „Verantwortlicher für den technischen Apparat“ zu festigen und auszuweiten. Denn im März 1937 wurde er „Litobmann“. Als solcher war er verantwortlich für die Herstellung und den Vertrieb der „Trait d’Union“. Als weiteres  Mitglied der Emi-Leitung erhielt Hugo Salzmann pro Woche 140 Francs: 84 Francs kamen als Unterstützung von der französischen Roten Hilfe (49 Francs für den Lebensunterhalt und 35 Francs für die Miete) und den Restbetrag von 56 Francs bezahlte die Emi-Leitung.

Hugo junior in Paris, 1935 (Quelle privat)

Die Zeitung Trait d’Union wurde von der Emi-Leitung herausgebracht. Sie war eine Emigrantenzeitschrift in französischer Sprache. Deren Redakteur war Alfred Benjamin (Deckname „Ben“). Die Trait d’Union sollte monatlich erscheinen, man nahm es damit aber nicht so genau. Sie wurde im Büro der „Zentralvereinigung der deutschen Emigranten“ in Paris, Faubourg, Montmartre Nr. 15 3. Etage geschrieben und mit einem Rotary-Apparat vervielfältigt. Der Litobmann musste die Zeitung abziehen. Anschließend verteilte er sie in größerer Anzahl an die Leiter der Emigrantengruppen. Anfangs wurde sie in einer Auflage von 1.200 bis 1.500 Exemplaren verkauft, im Jahre 1939 – nach einer gezielten Werbeaktion – lag die Auflage bei 2.500 Stück. Der Erlös aus dem Vertrieb der Trait d’Union floss der Emi-Leitung zu. 

Die Trait d’Union verstand sich als Bindeglied zwischen den antifaschistischen Emigranten und den französischen Arbeitern. Sie wollte aufklären über die aktuellen Lebensverhältnisse im Deutschen Reich und damit die Faszination, die Hitler nicht nur in Deutschland, sondern auch in großen Teilen des Auslands hervorgerufen hatte, zerstören. So wurde darin berichtet, dass in den deutschen Städten die Versorgung mit Lebensmitteln extrem schlecht sei;  die Hausfrauen müssten  – wie in Zeiten des Ersten Weltkrieges – vor den Geschäften Schlange stehen. Dabei stiegen die Preise ständig, die Löhne blieben aber gleich. Ein weiteres Thema war die politische Situation. Die Opposition sei in Konzentrationslager und Gefängnisse gesperrt oder sonst mundtot gemacht. Kaum einer traue sich, noch etwas gegen die Hitlerregierung zu sagen. Überall lauerten Spitzel. Alles sei reglementiert, für alles gebe es Vorschriften. Diese bestimmten, wer was lesen dürfe, wen er zu wählen habe, wo er einkaufen müsse, wessen Freund er sein dürfe, wie die Kinder zu erziehen seien und welchen Beruf man ergreifen dürfe.  Vor allem warnte die Trait d’Union schon frühzeitig – 1935/36, als fast die ganze Welt Hitler bei den Olympischen Sommerspielen 1936 in Berlin zujubelte – vor einem neuen Krieg. Während der Außenhandel in Deutschland zurückgegangen sei, sei die Rüstungsindustrie der einzig prosperierende Wirtschaftszweig. Deutschland habe sich in den drei Jahren der NS-Herrschaft zu einem Kriegsfeld gewandelt. Großindustrielle und Generäle warteten auf einen günstigen Augenblick, um die deutschen Arbeiter für die Eroberung des Ostens auf das Schlachtfeld zu schicken. Ihnen ginge nur es um ihren Profit. Während die Arbeiter hungerten, triumphierten die Kanonenverkäufer.  Das sei die Wahrheit. Mit dieser Zeitung Trait d’Union stand Hugo Salzmann immer wieder vor den Fabriktoren von Renault und verkaufte sie an die französischen Arbeiter. Wie sehr er den Kontakt und die Solidarität mit den Arbeitern suchte, wird auch daran deutlich, dass er u.a. Mitglied der französischen kommunistischen Gewerkschaft CGT wurde.  

Trait d’Union Nr. 4 Februar´/ März 1936 (Quelle: antifa-Archiv Hermann W. Morweiser)

Eine weitere Emigrantenzeitung war die in Paris herausgegebene „Deutsche Volkszeitung“. Sie war das offizielle Organ der so genannten „Deutschen Volksfront“. Sie erschien wöchentlich in einer Auflage von ca. 400 Stück. Die Emi-Leitung organisierte deren Verkauf, war aber nicht am Gewinn beteiligt. Außerdem erschienen noch die „Rote Fahne“, von ihr wurden monatlich ca. 100 bis 150 Exemplare umgesetzt, und „Die Tribüne“. 

Hugo Salzmann berichtet über seine Widerstandsarbeit als Literaturobmann in Paris:


Um diesen Literaturvertrieb rankt sich eine Geschichte, die ausdrücklich nie aufgeklärt wurde, deren Ablauf man sich aber schon vorstellen kann und die Jahre später für Hugo Salzmann noch lebensgefährlich werden sollte. 

Wiederholt erhielten Einwohner von Bad Kreuznach und Umgebung Post mit Druckschriften aus Frankreich, vor allem aus Paris. Eine dieser Sendungen ging an den berüchtigten SA-Sturmführer Christian Kappel; dieser war ein Schreiben beigefügt, mit dem man sich für seine „illegale Spende“ bedankte. Ein weiterer, unverschlossen in Paris aufgegebener Brief war an den früheren Bürgermeister von Bad Kreuznach Dr. Robert Fischer adressiert. Er enthielt die Schrift „Die junge Garde“ und einen Ausschnitt aus der Zeitung „Pariser Tageblatt Nr. 470“ mit dem Artikel: „Gemeinsamer Protest deutscher Sozialdemokraten und Kommunisten gegen den Justizmord von Rudolf Claus“. Ein weiterer Brief aus Paris ging „an den ehemaligen Kommunisten Otto Rehm“, dessen Inhalt war die Druckschrift „Tribunal“. Ein Brief ebenfalls mit der Schrift „Tribunal“ war an einen früheren Kommunisten und zwischenzeitlich zur NSDAP übergetretenen ehemaligen Nachbarn Hugo Salzmanns in der Beinde gerichtet. Schließlich erhielt ein ehemaliger Schulkamerad Hugo Salzmanns einen Brief aus Mühlhausen/Elsass mit den Druckschriften: „Ein Dokument brauner Schande“, „Amnestie“ und „Hitlers Sturz schafft Freiheit und Brot“.

Sämtliche Adressaten brachten die Zusendungen umgehend zur Polizei. Der Verdacht, Absender der Briefe zu sein, fiel sofort auf Hugo Salzmann. Er war nach Ansicht der Gestapo damals der einzige Kreuznacher, der nach Frankreich hatte fliehen können, und dem die Adressen dieser Kreuznacher – nebst deren Hintergrund – bekannt war. 

Hugo Salzmann war aber nicht nur als Litobmann für die Emi-Leitung aktiv sowie Mitglied der Emi-Gruppe seines Wohnbezirks, sondern darüber hinaus gehörte er auch noch einem Arbeitskreis des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller (SDS) an. Seine Gruppe wurde von dem saarländischen Schriftsteller Hans Marchwitza geleitet. Wahrscheinlich war es die bereits erwähnte Lore Wolf, die Salzmann in diesen Kreis einführte. Hans Marchwitza gewann ihn dafür, seine Familiengeschichte und die Geschichte der Glasbläser im Saargebiet und in Bad Kreuznach aufzuschreiben. Hugo Salzmann kam in seinem Bericht  gut voran und Lore Wolf tippte das Manuskript ab. Ganz fertig bekommen hat er seine Autobiografie aber nicht. Das Manuskript hat dann das Schicksal mancher Texte jener Zeit geteilt und ist unter den Bedingungen des Exils und der späteren Verfolgung verschollen.

In dieser Zeit wurde die schon mehrfach erwähnte Lore Wolf den Salzmanns eine liebe und lebenslange Freundin. Besonders herzlich war ihr Verhältnis zu Julianna und dem Sohn Hugo. In ihrer Autobiografie spricht Lore Wolf wiederholt von den beiden. So heißt es darin: 

Lore Wolf über die Bekanntschaft mit Julianna Salzmann:

„Ich bin ihr in Paris begegnet, der jungen blonden Frau Juliane. Sie führte einen Knaben von etwa zwei Jahren an der Hand, dessen große dunkle Augen traurig aus dem blassen Gesichtchen schauten. „Und warum hat uns der böse Mann keinen Batzi gegeben, dass wir Bort kaufen können?“ fragte er die Mutter, die ihn mit guten Worten beschwichtigte. (…) Ich sah die beiden öfter, wenn sie Hand in Hand durch unsere Gasse gingen oder beim Kaufmann schüchtern ein Achtel Butter verlangten, die in Paris fast nie in so geringer Menge verkauft wurde. (…) Die deutsche Sprache brachte uns einander näher, und bald hatten wir uns angefreundet, kannten wir unsere Leidensgeschichten, die sich ähnelten. (…) Auch hier bekam die Familie (Salzmann) keine Ruhe, das Asylrecht wurde ihnen verweigert. (…) Jedes Stückchen Brot hungerten sie sich für ihr Kind ab. Endlich fand Juliane eine Stelle, wo sie einige Stunden am Tage arbeiten konnte.“ 
(zit. nach Lore Wolf Ein Leben ist viel zu wenig, a.a.O. S. 135)


Die von Lore Wolf erwähnte Stelle war höchstwahrscheinlich eine Arbeit im Haushalt von jüdischen Familien, die – so geringfügig sie auch war – doch maßgeblich zum bescheidenen Familieneinkommen beigetragen hat.

Die Sorge um Klein-Hugo wurde schließlich so übermächtig, dass sich Hugo und Julianna Salzmann zum Wohl ihres Kindes entschlossen, es einer Flüchtlingshilfsorganisation anzuvertrauen. Wahrscheinlich geschah dies durch Vermittlung von Lore Wolf, denn sie war auch in Frankreich für die Rote Hilfe aktiv und von der KPD im Juli 1936 nach Zürich geschickt worden. Auf jeden Fall kam ein Kontakt zu einem praktischen Arzt namens Dr. Volker Scheu in Zürich zustande. Er war – wie man heute so sagt – gut vernetzt und mit seiner Familie schon eine bekannte Persönlichkeit in Zürich. Sein Vater Heinrich, wie auch dessen ältere Brüder Josef und Andreas, war ein recht bedeutender Sozialist und Führer der schweizerischen Arbeiterbewegung sowie Stadtrat von Zürich gewesen. In seinem Haus  verkehrten viele Führer der internationalen Arbeiterbewegung, wie Wilhelm und Karl Liebknecht, V. und F. Adler, August Bebel, Rjasanow und andere. Heinrich, Lehrer für Xylografie und Honorarprofessor war in zweiter Ehe mit Clara Hesse, Tochter des Philosophieprofessors Hesse, verheiratet. Beide hatten den Bund der Ehe in London geschlossen. In dieser weltoffenen, sozial engagierten und toleranten Familie wuchs der 1892 geborene Sohn Volker auf. Er wurde Mediziner und ein angesehener Arzt in Zürich. Er und seine Frau Scheu-Riesz nahmen Hugo längere Zeit bei sich auf. Bei Hugos erster Untersuchung im September 1935 stellte Dr. Scheu eine Unterernährung und starke Anämie fest.

Julianna Salzmann mit Klein-Hugo, um 1937 (Quelle: privat)

Ärztliches Zeugnis des praktischen Arztes Dr. med. V. Scheu, Zürich, vom 22. März 1952:

„Der Unterzeichner bestätigt hiermit, dass Herr Hugo Salzmann zwischen dem 19. September 1935 und dem 31. Mai 1937 zu verschiedenen Malen in unserer Behandlung war. Herr Salzmann war damals unterernährt und stark anämisch und war deshalb mehrere Male interkurrenten Magen-Darm-Störungen unterworfen. Es steht unserer Meinung nach außer Frage, dass Herr Salzmann durch die Ernährungsstörungen in den entscheidenden Wachstumsjahren eine folgenschwere Gesundheitsschädigung erlitten hat.“ 


Die kleine Familie Salzmann wieder zusammen in Paris, um 1937 (Quelle: privat)

Während der von Dr. Scheu bestätigten Behandlungszeit vom 19. September 1935 bis zum 31. Mai 1937 war Klein-Hugo bei der Familie Scheu, aber auch bei weiteren fünf Familien bzw. Ehepaaren in der Schweiz in Pflege.   

Aus welchen Gründen er dann Anfang Juni 1937 zu seinen Eltern nach Paris zurückkehrte, ist nicht bekannt. Sicher ist aber, dass ihm – wenn er in der Schweiz verblieben wäre bzw. hätte verbleiben können - vieles, von dem, was er in Frankreich noch erleben musste, erspart geblieben wäre. 

Die Freude seiner Eltern über seine gesunde Rückkehr nach Paris ist Julianna auf dem Foto deutlich anzusehen.

Julianna mit Sohn Hugo, um 1937 (Quelle: privat)

Inzwischen waren die Salzmanns auch umgezogen. Ihre Adresse, die erste von ihnen bekannte, war Avenue Pasteur Nr. 58 in Montreuil s/ Bois, einem Vorort von Paris. Das monatlich zur Verfügung stehende Budget war sehr knapp. Da hieß es schon, sehr sparsam wirtschaften. Dazu diente Hugo Salzmann ein Haushaltsblatt, in dem er die Ausgaben peinlich genau notierte.

Letztes von Hugo Salzmann geführtes Haushaltsblatt für die Zeit vom 30. April bis 2. September 1939  HIER lesen.

Ganz unerwartet erhielten die Salzmanns dann Kontakt zu der französisch-deutschen Familie Anna und Louis Bernard. Frau Bernard war eine geborene Assmann aus Kreuznach. Sie hatte im Jahr 1920 den französischen Besatzungssoldaten Louis Bernard geheiratet und war mit ihm nach Frankreich gezogen. Eines Tages Mitte der 1930er Jahre besuchte Louis Bernard Hugo Salzmann in der Anlaufstelle für deutsche politische Widerständler. Man kannte sich aus Kreuznach, zumal Louis` Schwager Philipp Assmann mit Hugo Salzmann gut bekannt  und ebenfalls Genosse war. Louis wusste um die Not und das Elend der Emigranten und gastfreundlich wie die Franzosen sind lud er die Salzmanns für den kommenden Sonntag zum Mittagessen ein. Daraus entwickelte sich ein recht enger Kontakt und die Salzmanns waren oft bei den Bernards in dem Pariser Vorort Villejuif eingeladen. Damit konnte Hugo auch Neuigkeiten über Kreuznach erfahren. Denn anders als sein Vater lebten die Angehörigen von Anna Bernard weiterhin in Kreuznach.

Einige Zeit später war Louis Bernard wieder in der Anlaufstelle für deutsche politische Widerständler. Diesmal hatte er seinen Schwager Philipp Assmann mitgebracht. Assmann war gerade aus der Gestapohaft freigekommen. Seine Sehnsucht nach seiner Schwester und seinem Schwager und ihren vier Kindern trieb ihn nach Paris. Da war er nun auf Kurzbesuch in Villejuif. Die Freude von Hugo und Philipp, sich nach Jahren und der Verfolgung durch die Nazis in Paris wieder zu sehen, war riesengroß. Sie war aber nicht ungetrübt. Denn Salzmann irritierte es sehr, dass sein aus der Gestapohaft gerade frei gekommener Freund ohne weiteres einen Pass für die Ausreise nach Frankreich erhalten hatte. Sogleich drängte er ihn und seinen Schwager in den Flur: „Vorsicht, Philipp. Erzähle hier nichts. Nenne keine Namen. Ich komme nach Villejuif.“ Das war eine Vorsichtsmaßnahme, die Salzmann auch seinem Genossen Assmann nicht ersparen konnte. Denn kein Emigrant, der zur illegalen Arbeit ins Reich zurückkehren sollte, durfte das Büro betreten. Und auch keinen Besucher, keinen Verwandten eines Emigranten aus dem „Reich“ ließ man in das Büro. Immer wieder war festzustellen, dass die Gestapo diese Anlaufstelle für deutsche Emigranten kannte. Auch versuchte mancher Gestapoagent als Emigrant in die Widerstandsorganisation in Frankreich zu gelangen. Da musste man das Büro gut abschirmen und Besucher streng kontrollieren. 

Damit blieb es bei Salzmann und Assmann bei einem Händedruck und einem „bis Morgen in Villejuif“. Bei den Bernards gab es ein freudiges und intensives Wiedersehen. Aber auch da ließ die Passerteilung Salzmann keine Ruhe. Und er bat um Vorsicht. „Philipp, so groß Paris auch ist, wir können uns hier nicht zusammen sehen lassen. Wir sehen uns nur bei der Familie Bernard.“ Und so hielten es dann auch die beiden. 

Zum Abschied gab Salzmann ihm noch Ratschläge auf den Weg: „Philipp, egal was kommt, sei auf alles gefasst. Es ist möglich, dass die Gestapo Dich bei Deiner Rückkehr ins Reich verhaftet. Bestimmt wird sie dann auch versuchen herauszubekommen, mit wem Du Dich in Frankreich getroffen hast, worüber gesprochen wurde.

Wir haben uns nie gesehen! Nimm keine Geschenke mit, womit der deutsche Zoll Dir Schwierigkeiten machen könnte. Sollte in den nächsten 14 Tagen keine Post von Dir kommen, wissen wir Bescheid – dann haben sie Dich verhaftet.“ Mit diesen Worten verabschiedeten sich die beiden. - Von Philipp Assmann kam keine Post...  

Als Sohn Hugo Mitte 1937 nach Paris zurückkehrte, hatte sich innenpolitisch viel verändert. Durch die von der Volksfront gewonnenen Wahlen Ende April/Anfang Mai 1936 hatte sich das innenpolitische Klima deutlich verbessert. Die Folge war auch eine gemäßigtere Flüchtlingspolitik. Die Genfer Konvention vom 4. August 1936 betreffend die Flüchtlinge aus Deutschland unterstützte diese Entwicklung noch. Schon im nächsten Monat wurde die Konvention von Frankreich ratifiziert und mit einem Dekret umgesetzt. Damit führte man für deutsche Flüchtlinge einen besonderen Ausweis ein, der die Bezeichnung „Ausweis für die aus Deutschland stammenden Flüchtlinge“ enthielt. Dieser Ausweis sollte denjenigen zugute kommen, die sich vor dem 5. August 1936 nachweisbar in Frankreich regelmäßig aufgehalten hatten. Die Emigranten, die bisher illegal lebten, konnten damit also ihren Status legalisieren.  

So gut gemeint diese Neuregelung auch war, kam sie den Salzmanns offenbar nicht zugute. Die Informationen hierüber gelangten erst spät zu den Emigranten selbst, oft zu einer Zeit, als die Fristen für die Antragstellung bereits abgelaufen waren. Zudem waren nicht wenige Flüchtlinge durch die bisherigen Verhältnisse verunsichert und zogen die Anonymität der Illegalität vor, um so nicht registriert zu sein. Denn andererseits hatte der Sieg der Linken die Gewaltbereitschaft rechtsextremer und faschistischer Organisationen verstärkt. Fremdenhass und Antisemitismus nahmen zu, auch gegen jene rund 50.000 Juden, die vor den Nazis aus Deutschland geflohen waren.

Inzwischen zeitigten die sozialen Errungenschaften ihren wirtschaftlichen Preis: die Lohnstückkosten stiegen, die Produktion sank und die Inflation stieg ebenfalls. Das waren innenpolitische Rückschläge der Regierung Leon Blum, außenpolitische folgten.

Am 7. März 1936 war die deutsche Wehrmacht unter Bruch des Versailler und des Locarno-Vertrages in das Rheinland einmarschiert, das als Puffer zwischen Deutschland und Frankreich entmilitarisiert sein sollte. Damit war nichts mehr von den Garantien übrig geblieben, die Frankreich aus seinem Sieg im Ersten Weltkrieg erhalten hatte. Mitte Juli 1936 begann mit der Erhebung der Truppen des Generals Franco in Spanisch-Marokko der Spanische Bürgerkrieg der Falangisten gegen die im Frühjahr 1936 gebildete Volksfrontregierung aus Linksrepublikanern, Sozialisten und Kommunisten. Während Deutschland und Italien zugunsten der Nationalisten eingriffen, musste sich die Volksfrontregierung Frankreichs auf Druck Englands notgedrungen zu einer Politik der Nichteinmischung entschließen – eine Entscheidung, die der Regierung Blum bei den eigenen Anhängern sehr schadete. 

Der bedrohten spanischen Republik und ihren Truppen traten dann Antifaschisten aus vielen Ländern Europas zur Seite. Sie bildeten die Internationalen Brigaden. Gerade aus Frankreich meldeten sich tausende Franzosen und auch Emigranten, um dort zur Verteidigung der Republik zu kämpfen. Hugo Salzmann war nicht unter ihnen. Ausschlaggebend für ihn waren sicherlich seine Situation mit der Familie, seine fehlende militärische Ausbildung und auch seine eher pazifistische Einstellung. 

Durch diese Entwicklung wurde die Lage der deutschen Emigranten in Paris, und auch die der Salzmanns, keineswegs besser. Die Stimmung schlug um. Im Februar 1937 verkündete Leon Blum eine „Pause“ bei den Wirtschaftsreformen, gleichwohl verschärfte sich die Krise, die Arbeitslosigkeit stieg. Im Juni 1937 war die Regierung Blum am Ende. Es folgte zwar eine neue Volksfront-Regierung, aber bei ihr waren die Akzente deutlich nach rechts verschoben. Auch sie konnte die Wirtschaftskrise nicht überwinden. Als der Staatsbankrott drohte, versuchte es Blum zum zweiten Mal als Ministerpräsident, scheiterte aber nach wenigen Wochen. 

Sein Nachfolger Edouard Daladier ist vor allem wegen des Münchner Abkommens bekannt. Zu dieser ersten Gipfelkonferenz im modernen Sinn kamen am 29./30. September 1938 in München die Staats- und Regierungschefs Großbritanniens, Frankreichs, Italiens und des Deutschen Reiches zusammen und berieten über Hitlers Forderung, das deutsch besiedelte Sudetenland anzugliedern. Vor Hitler, der sich schon auf einen Einmarsch in diesen Teil der Tschechoslowakei vorbereitet hatte, wichen der britische Premier Chamberlain und ihm folgend der französische Ministerpräsident Daladier zurück: Die Tschechoslowakei musste das fragliche Gebiet zwischen dem 1. und 10. Oktober 1938 an Deutschland herausgeben und erhielt dafür vage Versprechungen einer internationalen Garantie. Hitler bekräftigte zwar, dass dies „die letzte territoriale Forderung“ sei, doch stand sein Entschluss zur „Zerschlagung der Resttschechei“ längst fest. Bei seiner Rückkehr aus München. erwartete Daladier in Paris große Erleichterung. Selbst unsicher ob eines längerfristigen Erfolges in München, jubelte man ihm zu, als kehre er von einem großen diplomatischen Erfolg zurück. Bis auf die Kommunisten befürworteten alle Abgeordneten der Kammer das Münchner Abkommen. Die öffentliche Meinung in Frankreich war allerdings sehr viel differenzierter. 

Zur gleichen Zeit, zu der Hitler seinen Raubfeldzug durch Europa vorbereitete, entledigte er sich „missliebiger“ Staatsbürger, zu denen inzwischen auch die Salzmanns geworden waren. „Rechts“grundlage dafür war ein bereits am 14. Juli 1933 von der Reichsregierung erlassenes „Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und der Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit“. Zur Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft heißt es dazu in § 2 des Gesetzes:

§ 2 Absatz 1 des Gesetzes über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit:

„Reichsangehörige, die sich im Ausland aufhalten, können der deutschen Staatsangehörigkeit für verlustig erklärt werden, sofern sie durch ein Verhalten, das gegen die Pflicht zur Treue gegen das Reich und Volk verstößt, die deutschen Belange geschädigt haben. Das gleiche gilt für Staatsangehörige, die einer Rückkehraufforderung nicht Folge leisten, die der Reichsminister des Innern unter Hinweis auf diese Vorschrift an sie gerichtet hat. Bei der Einleitung des Aberkennungsverfahrens oder bei Erlass der Rückkehraufforderung kann ihr Vermögen beschlagnahmt, nach Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit als dem Reiche verfallen erklärt werden. Die Beschlagnahme des Vermögens endigt spätestens mit dem Ablauf von zwei Jahren, falls es nicht vorher als dem Reiche verfallen erklärt wird.“


Aufgrund dieser Vorschrift wurde allen drei Salzmanns, auch dem fünfjährigen Sohn Hugo, vom Reichsminister des Innern unter dem 22. September 1938 die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt und dies im Reichsanzeiger Nr. 222 des Deutschen Staatsanzeigers und Preußischen Staatsanzeigers vom 23. September 1939 öffentlich bekannt gemacht. Damit war die kleine Familie Salzmann nicht nur heimatlos, sondern auch noch staatenlos. 

Die außenpolitische Entwicklung ging im Jahr 1939 rasant weiter. Am 14. und 15. März 1939 marschierten deutsche Truppen in die Tschechoslowakei ein. Zur gleichen Zeit erklärte die Slowakei unter deutschem Druck ihre Unabhängigkeit und schloss wenige Tage später einen „Schutzvertrag“ mit Deutschland ab. Hitler nutzte die „Selbstauflösung“ der Tschechoslowakei, schuf aus der Resttschechei ein „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren“ und damit ein deutsches „Nebenland“. Seitdem sprach in Frankreich  niemand mehr von einem dauerhaften Frieden auf der Basis einer Verständigung mit dem „Führer“ des Deutschen Reiches. Die Appeasement-Politik Chamberlains und auch Daladiers war völlig gescheitert. Frankreich blieb nur noch ein Mittel, Hitler zu stoppen: Ein Abkommen mit der Sowjetunion. Denn Deutschland hatte seit jeher einen Zweifrontenkrieg – eine Front im Osten und eine Front im Westen - gescheut. Die Verhandlungen zogen sich aber immer mehr in die Länge, vor allem weil sich Polen weigerte, den sowjetischen Truppen den Durchmarsch durch sein Territorium zu gestatten. 

Dann war es aber zu spät. Am 23. August 1939 kam die Meldung, dass das Deutsche Reich und die Sowjetunion einen Nichtangriffspakt auf zehn Jahre abgeschlossen haben. Dieser Hitler-Stalin-Pakt verschaffte Hitler Handlungsfreiheit gegen Polen und verhieß bei einem Eingreifen der Westmächte Rückenfreiheit nach Osten sowie Zugang zu immensen Rohstoffvorkommen. 

Die überraschende Kehrtwende Moskaus brachte Frankreich und gerade auch die Kommunisten in eine schwierige Situation. Die kommunistischen Tageszeitungen „L’Humanité“ und „Ce Soir“ lobten den Pakt überschwänglich – die Folge war ihr Verbot.Wenige Tage später wurden alle Tageszeitungen und Zeitschriften der KPF verboten und in den Parteigebäuden Razzien durchgeführt. Das war der Anfang einer Entwicklung, die im Einzelnen nicht vorherzusehen war, die aber nichts Gutes verhieß. Damit standen auch für die deutschen kommunistischen Emigranten in Frankreich die Zeichen auf Sturm.