Kapitel 6: Erste Arbeiten  im Konzentrationslager Le Vernet

 

Geistige Beschäftigung in Le Vernet.

 

Wenn Hugo Salzmann von seiner Internierung im Konzentrationslager Le Vernet in der Zeit von Mitte Oktober 1939 bis Anfang Oktober 1941 erzählte, waren der Hunger und die kleinen Qualen des Alltags die Hauptthemen. Immer wieder berichtete er aber auch von dem eintönigen, Geist tötenden Alltagsleben im Lager – ohne Höhen und Tiefen und in der immer stärker werdenden Sorge um die eigene Zukunft und die Familie. Um diese Leere des Alltags zu überwinden, organisierten die Aktiven unter den Internierten gemeinschaftliche Veranstaltungen und animierten zum Mitmachen: Männer fanden sich zum gemeinsamen Singen in Chören ebenso zusammen wie in Kursen und Konferenzen, auch Schach- und Würfelspiele machten Furore. 

Außerdem waren viele auch für sich allein schöpferisch tätig. Einer von ihnen, Friedrich Wolf, arbeitete an seinem Schauspiel „Beaumarchais oder ‚Die Geburt des Figaro’“, das er in Le Vernet begonnen hatte und dort auch fertig stellte. Im Januar 1941 berichtete  Friedrich Wolf darüber.

Friedrich Wolf über die Entstehung seines Schauspiels „Beaumarchais oder ‚Die Geburt des Figaro’“:

„In einer Baracke, in der 180 Mann reden, singen, hämmern, hin und her rennen bzw. über dich hinwegklettern, ist der ‚Beaumarchais’ entstanden, oft allerdings in Nachtschicht, bei einer ‚Lampe’, Sardinenbüchse mit Öl-Schmalzgemisch und einem Stückchen geflochtener Schnur. Dabei immer die liebliche Nähe der Bullen und Achtgroschenjungen.“ 

 

Ein anderer, Rudolf Leonhard, schrieb Gedichte vor allem über das Lager und seine Männer, wie etwa das Gedicht „Grammatik“:

 

Aber nicht nur diese bekannten und schon vorher tätigen Literaten waren künstlerisch aktiv. Auch bisher nicht oder nur sporadisch kreative Männer entdeckten ihre künstlerische Ader und überwanden damit die Leere des Alltags und lenkten sich vom Grübeln um die Zukunft und die Familie ab. 

 

Die Weihnachtsfeier 1939.


Einer der Höhepunkte im eintönigen Lagerleben war die Weihnachtsfeier des Jahres 1939. Die führenden Köpfe hatten Programm mit bekannten und gefühlvollen Volks- und Kunstliedern sowie Gedichten und Sketchen zusammengestellt, an dem sich neben den Deutschen auch Spanier und Russen beteiligten. Der deutsche Teil begann mit dem Lied „Freiheit, die ich meine…“, danach deklamierte man aus Heinrich Heines Wintermärchen: „Denk’ ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht…“. Rudolf Leonhard trug das eigene Gedicht „Weihnacht in Vernet“, auch „Weihnachtslied“ genannt, vor. Einen wesentlichen Anstoß zu diesen Betätigungen gaben die Vorbereitungen zur Weihnachtsfeier des Jahres 1939. 


 

Die Weihnachtsfeier wurde fortgesetzt mit Weisen von Franz Schubert und “Es ist ein Ros’ entsprungen“. Den Abschluss bildeten die Verse, die dem alten deutschen Volkslied über die Gedankenfreiheit entlehnt und der aktuellen Situation angepasst waren:

 

Die Weihnachtsfeier war ein voller Erfolg. Sie wirkte auch noch fort und beflügelte die Männer von Le Vernet zu weiteren vielfältigen Aktivitäten. 

 

Hugo Salzmanns Knochenschnitzereien.

 

In dieser Zeit oder bereits einige Zeit zuvor hatte Hugo Salzmann - der Metalldreher, von dem wir bereits aus der Inhaftierung im September 1939 kleine Zeichnungen für seinen Sohn Hugo kennen - ebenfalls seine künstlerische Ader entdeckt. Er hatte sich dabei eine Betätigung ausgesucht, die man bei ihm nicht ohne weiteres vermutet hätte und die er dann von der Technik verfeinerte und vom Umfang her ausweitete. Es war das Schnitzen von Knochen – von Suppenknochen, dem er sich mit großem Engagement widmete.

Später berichtete Hugo Salzmann, wie er zum Knochenschnitzen kam und wie es sich entwickelte. Sein Bericht beginnt aber mit einer Beschreibung der Situation im Lager. Sie war ihm als Hintergrund für diese Arbeiten so wichtig, dass sie auch hier vorangestellt werden soll.

Hugo Salzmann berichtet über das Lagerleben:

„In diesem morastigen Lager befanden wir uns nun ein Jahr. Verwitterte Holzbaracken von Schneestürmen und Regen zerzaust. Ohne Fenster noch Türen. Im Gebälk eine einzige schwache elektrische Lampe. Nur im Quartier B gab es unter den vielen Holzbaracken auch drei aus Betonsteinen. Sie stammen noch aus dem Ersten Weltkrieg. Damals dienten sie als Lager für deutsche Kriegsgefangene. 

Meine Lagerstätte war die aus Stein gebaute Baracke 8. An den Außenwänden noch Restflecken von dem ehemaligen Betonverputz! In der zweiten Etage über mir lag der Genosse Dr. Friedrich Wolf. Gegenüber sein Freund Rudolf Leonhard, auch Schriftsteller. Dr. Friedrich Wolf arbeitete an seinem Roman „Beaumarchais“, während Rudolf Leonhard insbesondere Lagergedichte erstellte.

Was die Lagerführung unserer Genossen betraf: die Genossen Franz Dahlem, Siegried Rädel, K. Eisler, Bruno Frei, Philipp Daub, Paul Kräuter und einige weitere Genossen waren täglich vollauf beschäftigt. Sie hatten die Lagerleitung für die deutschen Spanienkämpfer sowie für die „internierten“ Emigranten-Genossen. Hinzu kam ihre Fähigkeit in Verbindung mit den führenden Genossen der Italiener, Spanier, Polen, Jugoslawen, Luxemburger, Belgier, Rumänen, Österreicher, Tschechoslowaken usw. Sie, die Lagerleitung, war verantwortlich für die Sicherheit der Genossen, Abwehr von Provokateuren, gegen Spitzel des Deuxième Bureau, für die Erhaltung der guten Moral und Disziplin im Lager. Unzählige Tage und Nächte waren ausgefüllt mit Arbeit.

Es gab auch noch eine Gruppe von „Außenarbeitern“, streng bewacht von der Garde Mobile. Aber die Gefangenen hatten die Möglichkeit, bei ihren Arbeiten in Verbindung mit der französischen Bevölkerung zu kommen. Das war bei der völligen Isolierung der Gefangenen im Lager ein großer Vorteil, nachdem sich Anfang 1940 eine immer stärker werdende Lebensmittelrationalisierung von der Bewachung des Lagers durchgeführt wurde.

Die große Masse der Internierten im Lager war ohne Tätigkeit. Die Unpolitischen vegetierten dahin. Lagen auf ihrer paar Hände voll Stroh, auf den Brettern. Läuse und Flöhe quälten die Menschen. Mäuse und Ratten sprangen nachts über die hungernden, im Winter noch frierenden Gefangenen.“

 

Und dann berichtete Hugo Salzmann über sein Knochenschnitzen:

Hugo Salzmann erzählt, wie er zum Schnitzen kam:

„In dieser Situation fanden sich, zuerst um sich selbst zu betätigen, den bohrenden Gedanken über das Schicksal ihrer Frauen und Kinder, ja über das eigene Weiterleben, die große Ungewissheit der Zukunft zu vertreiben, einige findige Genossen. Fachkräfte in ihrem erlernten Beruf sowie Dreher, Former, Elektriker, Schreiner, Schlosser, ja alle Berufe waren vertreten. Um die Eintönigkeit zu durchbrechen, sah ich einen Gefangenen, wie er auf seinem Strohlager liegend, mit einem Messer einen alten nackten, schon verwitterten Schienbeinknochen eines Ochsens oder einer Kuh einritzte und schabte, um diesem eine gewisse Form zu geben. Das erweckte mein Interesse. Kahle, bleiche Knochenstücke waren an einem Müllhaufen in einer Ecke des Lagers noch zu finden. Ich besaß zum Glück ein kleines Taschenmesser mit zwei Klingen. Das ist wenigstens eine Beschäftigung, etwas tun, um so die Gedanken, das Brüten und den Hunger – das Nagen und Nagen im Magen und Därme zu vergessen, sich abzulenken. Der Knochen besteht ja aus Kalk und Fett – so ein Schienbein-Markknochen ist eine Röhre, ich hatte einige verschiedene Größen gleich organisiert, etwas „Rohmaterial“ gesichert. Aber sonst war nichts im Quartier B zu finden.  

Für mich selbst waren die paar Knochen - so kahl, so trocken – mit einem Mal sehr wertvoll. Da kreisten die Gedanken. Ich  drehte und wendete die Knochenstücke, überlegte: Was kann ich daraus machen, was kann man daraus machen? Kein Hammer, keine Feile, keine Zange, keine Säge, kein Schraubstock – nichts, nichts als das kleine Taschenmesser. Wie erfinderisch wird der Mensch in seiner Notlage! Mit einem Stein und einem Messer wird der erste Knochen in Stücke gespalten. Nun müssen sie glatte Flächen haben - aber wie ohne Feile? Man müsste einmal probieren, an dem Stück der groben Betonwand - daran reiben, schleifen und im Halbkreis über die Betonwand schleifend: sst-sst-sst gab’s schöne Flächen. Das war nun der Schleifstein und Feilenersatz. Man rieb das Stück Knochen so lange, bis man die grobe Form hatte, zu der man ihn verarbeiten wollte. Mit dieser Beschäftigung kamen die Ideen für Ringe, Buchzeichen, Brieföffner, Armbänder, Halsketten, Gürtelschnallen, Blumenornamente, Einlegearbeiten, kleine Skulpturen, usw.

Die ersten Ringe, die ich anfertigte, waren einfache Stücke. Dann wurden sie verziert. Man kratzte und schabte, um dem Ring eine winzige, schmale, liegende Mädchenfigur zu geben. Das war im Lager mit solch primitivem Werkzeug eine „meisterhafte Leistung“. Wochenlang wurde an einem solchen Ring, bis er fertig war, geschabt, geritzt und poliert. So ging es mit allen übrigen Gegenständen.

Nun, für manchen Leidensgefährten war dies die Möglichkeit gewesen, sich abzulenken statt nur dumpf zu brüten. Die Folge dieser Schnitzereien war aber, dass es im Lager bald keinen einzigen Knochen mehr zu finden gab. Die winzige Fleischration verschwand ganz – Suppenknochen blieben aus. Der Hunger wurde immer schlimmer.Wochenlang gab es nur Suppe mit Topinambour und gesalzenem Klippfisch.“

 

Die Knochenschnitzereien und andere selbst gemachte Gegenstände waren vielfach ein Dankeschön für Auf- merksamkeiten, die Hugo Salzmann und die Männer von Le Vernet von außerhalb des Lagers erhalten hatten. Von Lore Wolf wissen wir, dass die wenigen noch in Paris verbliebenen Frauen ihre internierten Männer und Frauen unterstützten. Dazu strickten sie Strümpfe für das französische Militär, das ihnen für das Paar 12 Francs bezahlte. Mit diesem Geld konnten sie Fette, Hartgebäck, Dauerwurst und getrocknete Orangenschalen kaufen, die sie ihren Ehemännern, Freunden u.a. in das Lager Le Vernet schickten. Einmal beim Stricken, strickten die Frauen auch für Hugo Salzmann warme Kleidungsstücke. Als Dankeschön erhielten sie nicht nur Briefe, sondern auch selbst gebastelte Geschenke von Hugo Salzmann. Darunter war bestimmt der eine oder andere Brieföffner oder auch die eine oder andere kleine Skulptur. Wie den Knochenring hat Hugo Salzmann auch diese kleinen Skulpturen „in Serie“ gehen lassen. Allein zwei von ihnen hat er mit seiner „Habe“ aus dem Konzentrationslager Le Vernet retten können. 

Von Hugo Salzmann gearbeiteter Knochenring mit Frauenakt

 

Muster ohne Wert.


Bald waren aber alle Knochen im Lager „verschnitzt“ und es gab kaum Nachschub. Und dabei hatte man gerade ein „Geschäftsmodell“ mit den Schnitzereien oder besser gesagt einen Kommunikationsweg für sie und mit ihnen entdeckt. In Hugo Salzmanns Bericht heißt es dazu weiter:

Hugo Salzmann: „Muster ohne Wert“

„Der Winter kam, Schneestürme fegten von den Pyrenäen über das Meer. Die Lebensmittelzufuhr stockte. Brot, Kartoffeln gab es nicht mehr. Nur Schweinefutter, die übel riechenden und verfaulten Topinambour, eine Brühe nur mit Widerwillen den Hunger stillend. Dazu die Erlaubnis, nur einmal im Monat einem Menschen zu schreiben, der nicht im Lager lebte. Dabei herrschte strengste Zensur der Post. Die Außenwelt wusste nichts über die hungernden, frierenden, von Läusen, Flöhen, Wanzen, Ratten und Mäusen geplagten, dann an Typhus erkrankten Menschen. 

In dieser Situation hatte ein Genosse des Lagers auf eine Kartenform aus Pappe als „Muster ohne Wert“ einige Knochenringe genäht und die Kartenmuster versehen mit Absender aus dem Lager an verschiedene Adressen gerichtet. Diese „Muster ohne Wert“ ließ die französische Bewachung und Zensurkontrolle passieren. Unsere Lagerleitung hatte sofort erkannt, welche Möglichkeit bestand, die französische Zensur zu überlisten. Franz Dahlem, Siegfried Rädel, Eisler, Leonhard, Friedrich Wolf und so viele, viele andere Freunde wollten nun „Andenken“ als Muster ohne Wert verschicken. 

Auf Kunst wurde nicht so großer Wert gelegt. Das Stück Knochen musste eine Form haben, es musste was darstellen, da waren Fingerringe in allen Modellen die schnellste Erzeugung. 

Mein „Schleifstein“ an der Außenwand der Baracke 8 befand sich direkt an der Stelle, wo drinnen Dr. Friedrich Wolf auf seinem selbst gezimmerten Schemel saß und an seinem Roman „Beaumarchais“ arbeitete. Wenn ich an der Außenwand stur meinen Halbkreis zog, den Knochen schleifte, hörte mein Freund Friedrich nur das eintönige Reiben sst-sst-sst. Das machte ihn nervös. Er konnte dann nicht schreiben. Da meinte Friedrich eines Tages: „Hör mal, Genosse Hugo, kannst Du nicht an die Wand gegenüber gehen? Da kannst Du doch auch schleifen?“ - „Nein“, antwortete ich, „es gibt nur dieses Stück raue Betonfläche an der Baracke, die den Knochen schleift.“ Aber wir einigten uns: Wenn Friedrich Wolf mit Leonhard zur Beratung in die Baracke zu den Genossen Dahlem, Rädel, Eisler, Daub und Kräuter ging, dann konnte ich Knochen schleifen, ohne zu stören.“

 

Dieser unerwartete Erfolg beflügelte Hugo Salzmann und strahlte in das Lager zurück. Mit Genugtuung berichtete er über – wie er es nannte – „die Kraft der kahlen Knochen“:

Hugo Salzmann: „Die Kraft der kahlen Knochen“

„Ich hatte viel Arbeit mit den Knochen. So schnell konnte man gar nicht liefern, wie unsere Freunde Andenken haben wollten. Unsere Lagerleitung hatte nun den Dreh heraus, die „Muster ohne Wert“ überall hin zu senden, wo unsere Freunde wohnten und nicht wussten, wo die Emigranten, die politischen Funktionäre der KPD nach der Generalmobilmachung in Frankreich geblieben sind.

Nun erhielten sie eine Nachricht. In Amerika, Mexiko, Brasilien, Schweiz, Schweden, Frankreich, nach allen Erdteilen, wo unsere Genossen Freunde, Bekannte hatten, ging ein „Muster ohne Wert“ zu. Kein Gruß durfte vermerkt werden, aber der Absender, Name und das Internierungslager. Das Letzte war entscheidend. In aller Welt überlegten unsere Freunde, wie sie uns helfen könnten. Sie wussten nun, in welcher Gefahr wir uns befanden. Von überall kamen dann Briefe und Lebensmittelpakete an unsere Lagerleitung. Die Botschafter von Mexiko und Amerika wurden um Hilfe gebeten. Die Hoffnung auf Rettung der Antifaschisten im Lager brachte moralische Stärke. Im Lager wurde der Inhalt der Pakete aufbewahrt bis soviel beisammen war, dass pro Kopf der Gemeinschaft oft einige Würfel Schokolade, zwei oder drei Zigaretten, eine Scheibe Brot verteilt werden konnten. Der große starke Anton und Genosse Grünberg, Spanienkämpfer, in der Küche tätig, konnten aus Mais und Gries mindestens einen halben Liter Suppe pro Nase kochen.“

 

Wieder einmal ging das Material, gingen die Suppenknochen, für die Arbeiten aus. Aber so in der Schaffensfreude und vom Erfolg getragen, ließ sich Hugo Salzmann nicht bremsen. Und er fand Mitstreiter, die für Nachschub sorgten.

Hugo Salzmanns Bericht über den „Knochen-Nachschub“:

„Innerhalb und außerhalb des Lagers war kein Knochen mehr zu finden. Was nun? – Genosse Philipp Daub hatte einen guten Gedanken. Die französische Regierung Pétain hatte in dem französischen Ort Rieucros ein Frauenlager für Emi- grantinnen errichtet. In diesem Frauenlager befanden sich viele deutsche Widerstandskämpferinnen. Darunter auch die Genossinnen Ida Groß und Hilde Muth. Genosse Daub meinte, ich solle ihnen mal schreiben, ob sie nicht Knochen für unsere „Muster ohne Wert“ organisieren könnten. Das war ein guter Gedanke. Ich schrieb den Genossinnen, stellte ihnen auch ein „Muster ohne Wert“ – zwei Ringe – zu.“

 

Und tatsächlich konnte Hugo Salzmann schon bald neue Knochen in Empfang nehmen.

Hugo Salzmann über das „Knochenpaket“:

„Dann schickten mir diese Frauen ein Paket mit Knochen, weil bei uns im Lager keine mehr zu finden waren. Schöne weiße Röhrenknochen!

Wie oft musste ich darüber lachen, als ich dieses Knochenpaket bei all dem Hunger im Lager erhielt. Wie üblich schrie am Tor der Garde Mobile: „Fertig machen zum Paketempfang!“ und rief die Namen auf. Eine Handvoll Paketempfänger! Darunter auch ich – Franz Dahlem – Philipp Daub – Paul Kräuter – Hans Weyer – und noch einige.

Abmarsch an die Drahtverhaue. Hungrige Blicke folgten uns. Ich hatte eine Freude – endlich mal was zum Beißen! Dachte ja nicht an Knochen!

Da waren wir an der Pakethalle. Die Gauner von Garde Mobile hatten schon vorher alle Pakete geöffnet und beklaut. Einer rief die Namen auf. Schob dem Freund ein halbvolles Paket zu, grinst dabei, so ging’s weiter. Da, mein Name – Salzmann. Der Garde Mobile hält vor sich mein Paket, schaut mich grinsend an, macht den Deckel auf – lauter Knochen, blank wie ein Porzellanteller und blütenweiß!! Ich selbst starre nach den schönen Knochen! Endlich wieder etwas Material zum Arbeiten. Andenken machen für die Freunde – „Muster ohne Wert“ – nach aller Welt, damit die Freunde wissen, wer im Lager ist. 

Der Kerl von der Garde Mobile schaut mich immer noch an – blickt die Knochen an – schaut mich an – er kann nicht begreifen, für was die Knochen sind. Er kennt doch den Hunger im Lager. Er fragt mich auf Französisch, was der Kasten Knochen soll. Ich kann kein Französisch, verstehe ihn nicht. Ich schaue ihn an: „Was ist mit den Knochen da?“ Ein Schupp – zu mir fliegt mein Knochenpaket – mit der Bemerkung „Il est fou“ („Er ist verrückt“). Seine zwei Kollegen, gut genährt, halten sich den Bauch vor Lachen. Sie haben ihre „Arbeit“ getan.

Attention – garde à vous – un, deux – un, deux – un, deux – zurück zum Quartier B.

Philipp lächelt und macht seinen Witz: „Was, die haben aber die Knochen untersucht. Na, da haben sie keinen geklaut!!!“ Da mussten wir alle lachen. Verständnislos blickte uns jetzt unser Bewacher an. Ja, er verstand ja kein Deutsch. Philipp meinte: „Der kann uns angucken. Wenn wir auch Hunger haben, aber Humor haben wir immer noch!!! Die machen uns nicht klein!“ Hinter uns schlug das Tor krachend zu.“

 

Die Knochenringe Hugo Salzmanns bewegten seine Kameraden in Le Vernet bis in den Traum. So berichtet der Schriftsteller Rudolf Leonhard in einem Protokoll, in dem er seine Träume in Le Vernet aufgezeichnet hat, von einem Traum, in den ein besonders kunstvoll gearbeiteter Ring eingewoben war.

Der Knochenring-Traum Rudolf Leonhards:

„Ich gehe einen steilen engen Weg zwischen blühenden Gärten, in denen Leute flanieren, hinunter auf unser Haus zu. Vor dem werde ich von Gästen oder Fremden in Empfang genommen. Eine Frau unter ihnen trägt und zeigt mir an ihrem Finger einen Knochenring. Ich sage, dass ich den schönsten habe, der gemacht worden ist (und meine den, den Hugo mir im Lager geschnitzt hat). Ich zeige ihn vor und sehe ihn dabei selbst an. Er ist sehr groß. Er besteht aus zwei getrennten Teilen: Der obere, kleinere, arabeskenhafte ist wie eine Krone und als Krone über dem andern drehbar; und dieser andre, größere zeigt im Knauf einen – großen! – flach geschnitzten Christuskopf. Ich sehe erstaunt die drückende, gewaltige, beklemmende Ausdruckslosigkeit dieses gelben Kopfes mit braunem Haar und Bart.“ 
(zitiert nach: Rudolf Leonhard: In derselben Nacht, a.a.O., S. 59 f.)

 

 

Die Künstlergruppe im Quartier C.


Inzwischen waren auch zahlreiche andere Männer zu Künstlern geworden. Besonders aktiv war wohl eine Künstlergruppe im Quartier C, für die sich auch Hugo Salzmann begeisterte.

Hugo Salzmann über die Künstlergruppe im Quartier C:

„Hier darf nicht unerwähnt bleiben die Künstlergruppe im Quartier C. In diesem Lager war der größte Teil der internierten Genossen der Internationalen Brigaden, die sich nach Frankreich retten konnten. In ihrem Besitz waren noch Töpfe aus Aluminium ebenso andere Gebrauchsgegenstände. Ja, sogar ein kleiner eiserner Wolf! Er hatte gute Dienste geleistet, als wir im Quartier B dem französischen Capitaine seinen fetten Schäferhund abfingen und zwei Stunden danach unsere Freunde von der Interbrigade saftige Frikadellen für die Gemeinschaft lieferten. Dieser Heißhunger – welch herrliche Frikadellen! Schade, pro Mann waren es nur zwei Stück!

Das waren Künstler im Quartier C! Sie arbeiteten mit Aluminium. Im Lager wurde jedes Stückchen Aluminium gesammelt für Quartier C. Diese Genossen schnitzten sich aus Holz Modelle: Flugzeuge, Feuerzeuge, glatte – ja mit eingeschnitzten Reliefs - kleine Skulpturen, den Inter-Brigaden-Kämpfer darstellend – das war mehr als Lagerkunst! 

Der Lehmboden des Lagers Le Vernet wurde als Formsand verwendet. Der blanke Boden des Lagers, den tausende müder, hoffnungsloser, aber auch hunderte tapfere Spanienkämpfer der Internationalen Brigaden voller Mut und Überzeugung getreten, ja gestampft hatten! Dieses Stück Erde von Trauer, Wehmut und Elend rangen diese Internationalen Brigadisten einen nie vergehenden Wert ab. Dieser Lehmboden von Vernet!

Durch das Eintreten international bekannter Persönlichkeiten war es möglich, dass man Friedrich Wolf aus dem Lager befreite. Die Spanienkämpfer vom Quartier C gaben ihm viele Geschenke mit: Aluminiumflugzeuge, Taschenfeuerzeuge, ihre selbst geschaffenen Kunstgegenstände. Sie gingen ebenfalls als „Muster ohne Wert“ in alle Erdteile. Wie die Knochenarbeiten stellten sie am Ende ein Kampfmittel der Solidarität dar. Mit ihnen haben diese vielen unbekannten Künstler aus Treue zur Partei unerwartet Großes geleistet. Wenn sie durch die Brutalität des Faschismus auch namenlos starben, so sind sie doch niemals vergessen!“

 

 

Weitere Arbeiten Hugo Salzmanns.


Hugo Salzmanns Markenzeichen im Konzentrationslager Le Vernet waren seine Knochenschnitzereien, vor allem seine Knochenringe. Wenn diese auch „in Serie“ und als „Muster ohne Wert“ in alle Welt gingen, so widmete er sich in seinem künstlerischen Schaffen doch auch anderen Themen, Materialien und Techniken. 

Ein immer wiederkehrendes Thema waren das Lager und der Alltag dort. Wie Rudolf Leonhard mit seinen Lagergedichten dieses Trauma des Eingesperrtseins, der Fremdbestimmung, der Erniedrigung und des Hungers zu verarbeiten versucht hat, so hat Hugo Salzmann dies in seinen Bildern ausgedrückt. Bis zur Befreiung Jahre später hat er noch einige Zeichnungen retten können. In einem recht kleinen Format geben sie einen beklemmenden Eindruck vom Lager Le Vernet. Sie sind dominiert von Stacheldrahtverhauen, die bedrohlich das Lager von der Außenwelt abschließen. Und auch der Himmel ist schwarz und verhangen und signalisiert wenig Hoffnung. Dabei waren ihm diese Arbeiten so wichtig, dass er für sie Bilderrahmen aus Holz anfertigte und ihnen damit – im wahrsten Sinne des Wortes – einen würdigen Rahmen gab. 

Zeichnung aus dem Camp du Vernet 1939 - 1941
(Quelle: privat)

Ein weiteres Motiv Salzmanns Zeichnungen von Le Vernet ist das Latrinenkommando. Es war auch das markanteste Arbeitskomman- do im Lager. Die Häftlinge des Kommandos mussten mit Fässern den Inhalt der Latrine leeren, die vollen und schweren Fässer dann eine weite Strecke bis zur Fluss Ariège schleppen und dann dort entleeren. Das war für die ausgehungerten und ausgemer- gelten Männer eine anstrengende und harte Arbeit. Gleichwohl war es als Außenkommando durchaus interessant. Die Männer wurden zwar von den Soldaten überwacht, aber eine Chance zur Flucht bot sich schon einmal dann und wann. Und vor allem konnte man einmal etwas anderes als das Lager und die Stacheldrahtverhaue sehen – ein Stückchen Freiheit.

 


Eine ganz andere Technik wandte Hugo Salzmann bei seinen Holzschachteln an. Diese stellte er zunächst einmal aus Holzplatten her, umgab sie – wie die Zeichnungen – mit einem hölzernen Rahmen und brannte dann diese Holztafeln. Eine Holzschachtel hat die Verfolgung überdauert. Sie übernimmt die schon von den Zeichnungen bekannten Motive einer Lageransicht mit dem dominierenden Stacheldrahtverhau. Ihr ganz besonderes Gepräge erhält sie durch ihre Widmung. Es ist eine Erinnerung Hugo Salzmanns im Konzentrationslager Le Vernet an seine Frau Julianna zu ihrem 32. Geburtstag am 5. Februar 1941.

Deckel der Holzschachtel für Julianna Salzmanns 32. Geburtstag

 

Inneres der Holzschachtel für Julianna zum 32. Geburtstag 


weitere noch verfügbare Arbeiten aus Le Vernet von Hugo Salzmann als kleines Bilder-Video: