Kapitel 2: Kindheit und Jugend in Kreuznach

 

Die Salzmanns und Kreuznach ab ca. 1800.

 

Ansicht von Kreuznach mit Nahebrücke und Kautzenburg im Bildhintergrund, um 1849 (Quelle: Stadtarchiv Bad Kreuznach)

Als Hugo Salzmann im Jahr 1903 geboren wurde, war Kreuznach - „Bad“ wurde Kreuznach erst später -, ein Provinzstädtchen im Rheinland. Die Ge- schichte seiner Familie war schon sehr früh mit diesem Städtchen verbunden. Mütterlicherseits lässt sich dies zurückverfolgen bis zu seinen Ururur-großeltern Gerhard Hinterschied und seine Frau Susanna, geb. Bergmann, die jedenfalls um 1750 in Kreuznach gelebt haben. Ihre Tochter Maria Anna, die im Jahr 1758 in Kreuznach geboren wurde, ehelichte den 1744 geborenen Tagelöhner Nikolaus Schneider. Deren an Silvester 1795 geborener Sohn Heinrich heiratete dann die unter der ersten französischen, d.h. napoleoni-schen Herrschaft und unter Geltung des republikanischen Kalenders am XI. Messidor des Jahres 8 der Republik (= 30. Juni 1800) in Stromberg geborene Elisabetha Roemer.  

In dieser Zeit war der ehemals kurpfälzische Ort Kreuznach im Zuge des Wiener Kongresses im Jahr 1815 preußisch geworden. Er lag ganz im Süden der Rheinprovinz. An der Grenze zum Königreich Bayern und zum Großherzogtum Hessen hatte er sein Hinterland verloren. 

Die Rheinprovinz im Jahre 1830.

Diesen Standortnachteil glichen die Kreuznacher aber schon bald aus, indem sie die Solequellen zu Trink- und Badekuren zu nutzen begannen. Deren sich rasch herumsprechende Heilkraft ließ einen kleinen Kurbetrieb entstehen, der sein Zentrum in dem 1843 errichteten Kurhaus im Kurpark hatte. 

Altes Kurhaus, 1846 ( Quelle: Stadtarchiv Bad Kreuznach) 

Vor allem durch den Kurbetrieb – das neue Kurhaus wurde 1840 erbaut - erlebte Kreuznach eine erste Blüte. Noch mehr Besucher kamen zur Kur und zur Erholung, als das Städtchen im Jahr 1858 durch die Rhein-Nahe-Bahn (Nahetalbahn) mit Bingerbrück (heute Bingen Hbf) und damit mit der Rheinstrecke Köln-Mainz und ein Jahr später mit Oberstein und wiederum im nächsten Jahr über Birkenfeld (heute Neubrücke) und St. Wendel mit Neunkirchen verbunden wurde. Dort schloss sich die Eisenbahnlinie Neunkirchen – Saarbrücken an. 

Die Nahetalbahn in Kreuznach; im Hintergrund links die Gebäude der Glashütte, um 1910
(Quelle: Stadtarchiv Bad Kreuznach)

Die Eisenbahnlinie sorgte offenbar auch in anderer Beziehung für Mobilität. Denn die im Jahr 1840 von Hugo Salzmanns Urahnen Heinrich und Elisabetha Schneider geborene Tochter Margarete heiratete im Jahr 1865 den Rottenführer Robert Rose und zog mit ihm nach Lagrange-Monhofen. Das war ein kleiner Ort in Lothringen, der in dieser Zeit gerade seine staatliche Zugehörigkeit hatte wechseln müssen. Denn vor dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 hatte er zu Frankreich gehört, danach – nach dem Vorfrieden von Versailles im Februar 1871 - fiel er wie Lothringen insgesamt an das Deutschen Reich, als dessen Kaiser der preußische König WilhelmI im Spiegelsaal des Schlosses Versailles bei Paris am 18. Januar 1871 zum deutschen Kaiser Wilhelm I. proklamiert wurde.   

 

Die Salzmanns und die Kreuznacher Glashütte.


Die Nahetalbahn hatte aber auch für weitere Mobilität gesorgt, insbesondere einem zweiten Wirtschaftszweig in Kreuznach neue Impulse gegeben: der Industrie. Es dauerte dann noch bis 1865, bis sich nach der bereits bestehenden Tabakindustrie eine neue Industrie in Kreuznach ansiedelte. Damals gründete der aus Kaiserslautern stammende Maurer- und Zimmerermeister Wilhelm Hermann die Hohlglasfabrik, die bald offiziell „Flaschenfabrik Kreuznacher Glashütte“ hieß. Das Gelände grenzte im Westen an die Eisenbahnlinie, im Norden an die Schlachthofstraße (heute Heidenmauer) und im Süden an die Planiger Straße. Heute befindet sich auf dem Gelände das Schulzentrum. 

Der Betrieb beschäftigte bald viele Arbeiter, war Kreuznach doch ein guter Standort: Ganz in der Nähe gab es reich- haltige Vorkommen an Kalk, Sand und Kiesel. Außerdem sorgte die Eisenbahnlinie zum Saargebiet für die Belieferung mit Kohle. Die aus diesen Rohstoffen hergestellten Flaschen fanden ihre Abnehmer gleichsam vor der Haustür: Bei den Winzern der Umgebung in den Weinanbaugebieten Nahe, Mittelrhein, Rheinhessen und Pfalz – und später auch sogar in Übersee. „Dampfkraft und Eisen“ waren die Hebel des sich entwickelnden Industriezeitalters, wie Bismarcks „Blut und Eisen“ die Hebel zur Gründung des Deutschen Reiches 1871 waren.

Aber ein Problem gab es schon: das waren die Glasbläser selbst. In Kreuznach und Umgebung gab es keine qualifizierten Fachkräfte, die die Technik des Glasblasens beherrschten. So war man auf auswärtige Arbeiter angewiesen. Einer von ihnen war Hugo Salzmanns Großvater, der ebenfalls Hugo hieß. Er war 1844 im bayerischen Windheim geboren. Später war er nach Friedrichsthal bei Saarbrücken gezogen und bei den Friedrichsthaler Glasmachern Glasbläser geworden. Er hatte alsbald die in Friedrichstahl um 1850 geborene Katharina Pfeiffer geheiratet. Aus dieser Ehe ging Hugo Salzmanns Vater Peter hervor, der im Jahre 1872 dort geboren wurde. 

Hugos Vater wurde in eine Phase stürmischer Industrialisierung hinein geboren – wie der erwähnte Bau der Nahetalbahn und die Ansiedlung von Industrie in dem Provinzstädtchen Kreuznach exemplarisch deutlich machen. Die Entwicklung erhielt noch einen weiteren Schub durch die Gründung des Deutschen Kaiserreichs im Jahre 1871 und eine Phase der wirtschaftlichen Hochkonjunktur. Es kam zu einem „Gründungsfieber“ und „Gründungsboom“, die im Jahr 1873 allerdings in einem „Gründungskrach“ endeten. Die Folge war die „Große Depression“.

In dieser Zeit setzte eine starke Wanderungsbewegung ein. Menschen zogen in Strömen aus den landwirtschaftlichen Regionen in die industriellen Ballungszentren, nach Berlin, in das Ruhrgebiet und andere Industriestädte und –orte, um dort Arbeit in den Fabriken und Bergwerken zu finden. Sicherlich war der  Zuzug der Familie Salzmann aus dem Glasmacherort Friedrichsthal nach Kreuznach ein kleiner Ausschnitt aus dieser massenhaften Binnenwanderung. Zwar waren die Glasbläser generell ein sehr unternehmungslustiges Völkchen, daher auch der Neckname „Glasspatzen“ für sie. Das galt aber wohl nicht für Hugo Salzmanns Großvater. Denn er hatte ein Mädchen aus Friedrichsthal geheiratet, dort war auch jedenfalls ihr Sohn Peter 1872 zur Welt gekommen. Deshalb muss es schon einen besonderen Grund gegeben haben, dass Hugo Salzmanns Großvater mit seiner Familie im Jahr 1880 von Friedrichsthal nach Kreuznach übersiedelte. Der Grund wird darin gelegen haben, dass sich die Kreuznacher Glashütte 1879/80 bedeutend erweiterte. So wurde die Flaschenproduktion in den nächsten zehn Jahren von 2,5 Millionen auf zehn Millionen vervierfacht. Hierfür warb man Fachkräfte an, einer von ihnen war Hugo Salzmanns Großvater.   

Außenansicht der Kreuznacher Glashütte, um 1907 (Quelle: Stadtarchiv Bad Kreuznach)

 

Innenansicht der Kreuznacher Glashütte, um 1910 (Quelle: Stadtarchiv Bad Kreuznach)

In Kreuznach erlebte Hugo Salzmanns Großvater den Kapitalismus dann schon von seiner sozialeren Seite. Denn die Glasbläser waren gesuchte Facharbeiter, um deren Arbeitskraft man sich bemühen musste. Ihre wirtschaftliche und soziale Lage war dementsprechend über dem Durchschnitt. Im Jahr 1893 – so hat man einmal errechnet – lag der Lohn der Glasbläser 400 bis 500 Mark über dem anderer Handwerker. Auch sonst war die Unternehmensleitung der Kreuznacher Glashütte vergleichsweise sozial: So ließ sie in der Planiger Straße und in der Schlachthofstraße insgesamt sechs Arbeiterwohnhäuser bauen (von denen heute noch fünf Häuser in der Planiger Straße stehen und bewohnt sind). Die Arbeiter durften zentral eingerichtete Wannenbäder kostenlos benutzen und einmal in der Woche gab es für sie kostenlos frischen Seefisch.

Eines der Arbeiterwohnhäuser in der Planiger Straße, um 1920 (Quelle: Stadtarchiv Bad Kreuznach)

Diese „Wohltaten“ gab es aber nur als „Gegenleistung“ für die sehr harten Arbeitsbedingungen. So mussten die Glasbläser Schwerstarbeit im Schichtdienst und in glühender Hitze leisten. Die Gefahren für die Gesundheit waren sehr groß und die Lebenserwartung unter diesen Arbeitsbedingungen recht gering.

Schon sehr früh wurde Hugo Salzmanns Vater Peter mit diesem Arbeitermilieu und den Arbeitsbedingungen vertraut. Bereits als neunjähriger Bub half er seinem Vater in der Hütte.

Bericht von Hugo Salzmann über die Arbeit in der Kreuznacher Glashütte:
 
„In den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts (d.h. des 19. Jahrhunderts, Ergänzung des Autors) arbeitete mein Vater mit gerade einmal neun Jahren mit seinem Vater zusammen auf der Werkstelle. Seine zehn und elf Jahre alten Geschwister mussten in Tag- und Nachtschichten als Flaschenträger arbeiten. Dem Direktor Rothhaar wurde mitgeteilt, wann eine Kontrolle der Gewerbeaufsicht kommen würde. Schnell wurden die Kinder in einem leeren Kühlofen versteckt, bis die Herren verschwunden waren.“

 

Tondokument: Hören Sie dazu auch die Schilderung Hugo Salzmanns in einer späteren Tonaufzeichnung:

 

Glasbläser bei der Arbeit (US-Aufnahme ca.1922)

An diese Arbeit und an diese Arbeitstelle schon von Kind an gewöhnt, war Hugos Vater Peter in die Fußstapfen seines Vaters getreten und ebenfalls Glasmacher in der Kreuznacher Glashütte geworden. Die Arbeitsbedingungen blieben sehr hart und die Arbeiter wurden klein gehalten. Jeder musste bei seiner Einstellung erklären, dass er mit der Fabrikordnung „vollständig einverstanden“ sei und dass er im Falle einer Beteiligung an sozialistischen oder gewerkschaftlichen Aktivitäten – und das galt auch außerhalb der Fabrik – mit der sofortigen Entlassung aus dem Arbeitsverhältnis „ohne Einhaltung der gesetzlichen Kündigungsfrist“ zu rechnen habe. Widerstand hiergegen regte sich erst mit der Gründung des Ortsvereins der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) in Kreuznach Anfang der 1890er Jahre. 

 

Die Anfänge der SPD und der Gewerkschaften in Kreuznach.


Bis dahin hatten die Sozialdemokraten bereits eine bewegte Geschichte hinter sich. Ihr Ursprung bzw. Vorläufer  war der von Ferdinand Lassalle im Jahre 1863 initiierte Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV). Im Jahre 1869 gründeten dann August Bebel und Wilhelm Liebknecht die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP). Es dauerte dann noch bis zum Jahr 1875, bis sich beide Parteien auf dem Vereinigungsparteitag von Gotha zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) zusammenschlossen.

Seitdem hatten die Sozialdemokraten stetig an Wählern gewonnen. Waren sie bei den Reichstagswahlen 1871 mit 3,2 Prozent aller Stimmen noch eine kleine Minderheit, so konnten sie 1877 ihren Stimmenanteil fast verdreifachen. Einen Rückschlag gab es allerdings durch die antisozialistischen Ausnahmegesetze Bismarcks, die Sozialistengesetze, die sich gegen die angeblich „gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ richteten. Sie hatten zu einem starken Druck auf die Anhänger der Sozialisten und zur Verfolgung ihrer führenden Köpfe geführt. So waren etwa im Jahre 1887 vor dem Landgericht Elberfeld 95 Sozialisten wegen „Gründung eines Geheimbundes über ganz Deutschland“ angeklagt. Hauptangeklagter war August Bebel. Ein anderer Angeklagter war Adam Behrend. Behrend zog nach dem Prozess, der für ihn wie für viele andere auch mit einem Freispruch endete, nach Kreuznach. Dort gründete er im Jahre 1890 - gerade war die Geltungsdauer der repressiven Sozialistengesetze abgelaufen - mit Gleichgesinnten die Orts- gruppe der sich inzwischen SPD nennenden Sozialdemokraten. Sie begannen auch mit gewerkschaftlicher Arbeit.

Bericht von Hugo Salzmann über die Gründung der Gewerkschaft in Kreuznach:  

„Sie (die alten Sozialdemokraten, Ergänzungen des Autors) begannen in Kreuznach mit gewerkschaftlicher Arbeit. Man gründete sogar einen Turn- und Gesangverein der Glasarbeiter. Gegen Turnen und Singen hatte die Direktion nichts einzuwenden, wohl aber gegen eine gewerkschaftliche Tätigkeit. Konnte die Direktion jemandem diese nachweisen, bedeutete es alsbaldige Entlassung. Die alten Sozialdemokraten (Schuhmacher) Bruno Dietrich, (Adam) Behrend, (Schreiner Heinrich) Bretz und (Polizist Heinrich) Ermel übernahmen den Vorstand des Glasarbeiterverbandes in Kreuznach. Sie konnten nicht entlassen werden.  (weil sie in der Glashütte nicht beschäftigt waren, Ergänzung des Autors)  Sie organisierten die Kontrolle der Beitragszahlungen der Mitglieder und den Vertrieb der Glasarbeiterzeitung.“

 


Der Männergesangsverein der Kreuznacher Glashütte vor dem Büro- und Arbeiterwohnhaus, um 1910
(Quelle: Stadtarchiv Bad Kreuznach)

Peter Salzmann war ebenfalls gewerkschaftlich und auch in der SPD organisiert – nur durfte es die Geschäftsleitung nicht erfahren. 

Oft und massiv warnte die Geschäftsführung der Glashütte. So hieß es beispielsweise im Jahr 1893 in einem Drohbrief an die Arbeiter:

Drohbrief der Kreuznacher Glashütte an die eigenen Arbeiter:

Wir machen hierdurch bekannt, dass uns von vielen Seiten zu Ohren gekommen ist, dass viele unserer Arbeiter mit sozialdemokratischen Agitatoren, Aufwieglern und Hetzern verkehren und dem Verbande der Glasarbeiter Deutschlands angehören. Wir machen hierdurch jedem Arbeiter bekannt, dass, wem seine Arbeitsstelle lieb ist, mit solchen Sachen und solchen Leuten sich nicht befassen und verkehren darf; da wir bemüht sind, das Arbeiterwohl nach besten Kräften zu pflegen und zu unterstützen. Zuwiderhandlungen gegen vorstehende Verordnung werden mit sofortiger Kündigung bestraft.“ (zitiert nach: Degenhard May: Die Flaschenfabrik Kreuznacher Glashütte 1865 – 1919, a.a.O., S. 110

 

Solchen Warnungen folgten dann auch umgehend Taten, die Hüttenleitung machte von ihrem Kündigungsrecht rigoros Gebrauch. Gleichwohl kam es im Jahr 1901 zu einem Generalstreik der Glasmacher in Deutschland, dem sich auch die Hälfte der Kreuznacher Glasbläser – höchstwahrscheinlich auch Hugo Salzmanns Vater Peter - anschloss. Der Streik dauerte mehr als zwei Monate, blieb erfolglos und war ein Fiasko für die Glasmacher und ihre Gewerkschaft. Weiterarbeiten durften sie nur, wenn sie ihr Gewerkschaftsbuch abgaben und unterschrieben, kein Mitglied im Verband mehr zu sein.

 

Hugo Salzmanns Familie.

 


Hugo Salzmanns Vater Peter (1872 – 1959),
um 1940 (Quelle: privat)

Hugo Salzmanns Vater heiratete dann im Jahr 1901 in Kreuznach. Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der Salzmanns, dass sich die Männer vielfach mit Frauen von auswärts verheiraten und man über das Kennenlernen nur spekulieren kann. Peter Salzmann ehelichte die im Jahr 1880 in Lagrange-Monhofen (heute wieder: Manom bei Thionville im französischen Lothringen) geborene Anna Auguste Rose. Sie war mit ihren Eltern im Jahr 1888 von Lothringen nach Kreuznach gezogen. Hintergrund dieses Zuzugs dürfte gewesen sein, dass ihre Mutter Margarete eine geborene Kreuznacherin war, mit ihrem Mann Robert nach Lothringen gezogen war und nunmehr mit ihrer Familie nach Kreuznach zurückkehrte. Hier lernten sich Hugo Salzmanns Eltern Peter und Anna dann kennen.

 

Aus dieser Ehe gingen sechs Kinder hervor. Das älteste war die 1901 geborene Katharina, Käthe genannt. Zwei Jahre später kam Hugo als zweites Kind zur Welt. Der 1904 geborene Heinrich starb schon nach drei Monaten. Das vierte Kind war wiederum ein Mädchen, die 1905 geborene Anna Mathilde, genannt Anni. Dann kam Karl Hermann im Jahr 1907 zur Welt. Auch sie lebten in der Arbeitersiedlung in der Planiger Straße – Hausnummer 75. Das jüngste Kind Tilla wurde dann 1908 schon in Budenheim geboren, wohin die Familie, die in sehr beengten Verhältnissen gelebt hatte, kurz zuvor umgezogen war.

 


Hugo Salzmanns Mutter Anna Auguste, geb. Rose (1880 – 1919), ohne Datierung (Quelle: privat)

 

 

Hugo Salzmanns Kindheit im ausgehenden Kaiserreich.


Als Hugo Salzmann am 4. Februar 1903 zur Welt kam, hatte die Wirtschaft nach langen Jahren der Depression deutlich Fahrt aufgenommen und setzte diesen Aufschwung fort. In Kreuznach kam zu der allgemeinen Entwicklung noch hinzu, dass der Apotheker Dr. Aschoff 1904 die Radonthaltigkeit der Heilquelle entdeckte; das gab dem Kurbetrieb einen weiteren Impuls. 

 

Kurhaus Kreuznach ( zeitgenössisches  Gemälde), um  1900  (Quelle: Stadtarchiv Bad Kreuznach) 

Ansprache Kaiser Wilhelms II. am 24. Februar 1892 beim Brandenburgischen Provinziallandtag:

„Wir leben in einem Übergangszustande! Deutschland wächst allmählich aus den Kinderschuhen heraus, um in das Jünglingsalter einzutreten. Da wäre es wohl an der Zeit, dass wir uns von unsern Kinderkrankheiten frei machten. Wir gehen durch bewegende und anregende Tage hindurch (…). Ihnen werden ruhigere Tage folgen, insofern unser Volk sich ernstlich zusammennimmt, in sich geht und unbeirrt von fremden Stimmen auf Gott baut und die ehrliche fürsorgliche Arbeit seines angestammten Herrschers. (…) Brandenburger, zu Großem sind wir noch bestimmt, und herrlichen Tagen führe Ich euch noch entgegen.“ 
(zitiert nach: Christian Graf von Krockow: Die Deutschen in ihrem Jahrhundert 1890 – 1990, a.a.O., S. 17 f.)

 

Der wirtschaftliche Aufschwung kam aber nicht überall und in gleicher Weise an. Wie es immer wieder vorgekommen war und auch heutzutage vorkommt, machte der Aufschwung die Oberschicht und die obere Mittelschicht und damit die Reichen noch reicher. Demgegenüber verbesserte sich aber die soziale Lage der Unterschichten und der Arbeiter nur unwesentlich. Dadurch vergrösserten sich die Einkommensunterschiede noch weiter. Das bekam auch die Familie Salzmann zu spüren. 

Bei den Salzmanns kam noch die Abhängigkeit vom Wohl und Wehe der Kreuznacher Glashütte hinzu. Deren Situation wurde immer schwieriger. Deshalb hatte man bereits im Jahr 1899 die Glashütte an den Marktführer in diesem Wirtschaftsbereich, an die Gerresheimer Glashüttenwerke AG verpachtet. Schon bald stellte die weitere Rationalisierung durch  die vollautomatische  Flaschenherstellung eine Bedrohung für die Kreuznacher Arbeitsplätze dar. Denn die Flaschenblasmaschine konnte mit vier Mann Bedienungspersonal 75 Glasbläser nebst Hilfskräften ersetzen. Das war ein gewaltiger Rationalisierungsschub. Die Maschine wurde zwar nicht in Kreuznach eingesetzt – hier blieb es bei der handwerklichen Massenproduktion -, wohl aber in anderen Werken der Gerresheimer Glashütte AG. Dadurch wurde der Markt für die Kreuznacher Produkte kleiner und der Konkurrenzdruck größer. Die Folge waren Entlassungen – auch in Kreuznach – und andernorts sogar Betriebsstilllegungen.

In dieser Situation – zu Ostern 1909 – wurde Hugo Salzmann eingeschult. Er kam in die katholische Volksschule in der Mainzer Straße. So jung er noch war, so wird er doch diese Probleme in der Familie und in seiner Umgebung mitbekommen haben. Die Schwierigkeiten in der Glashütte nahmen mit Beginn des Ersten Weltkrieges am 1. August 1914 noch zu, da die Eisenbahnen für Soldaten und Kriegsgerät benötigt wurden und nicht mehr bzw. nur noch in geringerem Umfang für die Kohlentransporte aus dem Saargebiet nach Kreuznach zur Verfügung standen. Auch fehlten Arbeitskräfte, da die Arbeiter Soldaten wurden.

Konkret begann der I. Weltkrieg nach der Generalmobilmachung der russischen Armee am 30. Juli 1914. Nachdem das deutsche Ultimatum zur Rücknahme der russischen Mobil- machung verstrichen war, machte das Deutsche Reich am 1. August 1914 ebenfalls mobil und erklärte Russland den Krieg. Daraufhin machte das mit Russland verbündete Frankreich ebenfalls mobil. Die ersten Kriegshandlungen gingen am 1. August 1914 von Russland aus, das die ostpreußische Grenze überschritt. In den nächsten Tagen zogen die deutschen Soldaten voller Siegeszuversicht und begleitet von Hurrarufen und Abschiedsgrüßen fast des ganzen deutschen Volkes in den Weltkrieg.

Der Öffentliche Anzeiger vom 1. August 1914: Originaldokument HIER lesen

 

Der I. Weltkrieg.


Einer dieser Soldaten war auch Hugo Salzmanns Vater. Wahrscheinlich zog auch er – wie viele andere deutsche Männer – freudig in den Krieg. Da spielte es wohl auch keine Rolle, dass er Mitglied der SPD war. Jahrzehntelang waren die Sozialdemokraten als „vaterlandslose Gesellen“ diffamiert worden. Das war die Feinderklärung schlechthin und die Ausgrenzung aus der nationalen Gemeinschaft. 

Inzwischen hatten die Sozialdemokraten aber – zahlenmäßig - einen Siegeszug angetreten: Im Reichstag von 1871 saßen bei einem Stimmenanteil von 3,2 Prozent zwei Arbeitervertreter; 1890 gewannen die Sozialdemokraten mit 19,9 Prozent der Stimmen 35 von 397 Mandaten; 1912, bei den letzten Vorkriegswahlen, waren daraus 34,8 Prozent und 110 Mandate geworden. Angesichts der ungeheuren Kriegsbegeisterung der Deutschen fiel es der inzwischen so groß und bedeutend gewordenen SPD schwer, abseits zu stehen und weiterhin als „vaterlandslose Gesellen“ zu gelten. 

So kam es, dass am 4. August 1914 der Reichstag einstimmig – auch mit den Stimmen sämtlicher Sozialdemokraten – die Kriegskredite bewilligte. Man wollte – wie es hieß –, dass sich „die ärmsten Söhne des Volkes als seine treuesten erweisen.“ Danach ging das ganze Parlament  - einschließlich der sozialdemokratischen Abgeordneten - auseinander und überließ Kaiser Wilhelm II., dem Reichskanzler von Bethmann-Hollweg und später immer mehr der Obersten Heeresleitung die Kriegsführung, ohne auch nur den Versuch einer Kontrolle zu machen. Das war der deutsche Burg-frieden von August 1914. Wenig später stellte Kaiser Wilhelm II. euphorisch fest:

Kaiser Wilhelm II bei Beginn des 1. Weltkrieges:

„Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche“.

 

Fast ganz Deutschland war hellauf begeistert über den Krieg und die ersten Erfolge. In Kreuznach war es genau- so wie fast überall.

 


Der Öffentliche Anzeiger zum 4. August 1914: Originaldokument HIER lesen

Nach den anfänglichen Siegen in Frankreich kam die Offensive aber nach der Schlacht an der Marne zum Stillstand und ein erbitterter Stellungskrieg in Unterständen und Laufgräben begann. Dort an der Westfront kämpfte auch Peter Salzmann.

Aber der Krieg hatte offenbar auch schöne Seiten – jedenfalls für die Generäle und die anderen hohen Militärs - und auch in Kreuznach; dort hatte die Oberste Heeresleitung in den Jahren 1917 und 1918 im Hotel Oranienhof das Große Hauptquartier eingerichtet

Das Große Hauptquartier in Kreuznach:

„Ein Erlebnis hat (...) Kreuznach vor allen Orten im deutschen Vaterland voraus, ein Erlebnis, das es zu einer Weihestätte des deutschen Volkes für alle Zukunft macht: Am 2. Januar 1917 wurde das Große Hauptquartier nach Kreuznach verlegt. Kreuznach wurde für über ein Jahr Herz und Hirn des großen Krieges. (Dann heißt es weiter zu Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg, Ergänzung des Autors:) Der Ehrfurcht gebietende treue Mann war immer in kürzester Zeit der Mittelpunkt, in dem sich die Bewunderung und Verehrung aller deutsch fühlenden Herzen vereinigte. Das Besondere in Kreuznach war, dass man auf ihn hoffte, denn man wusste: Wenn einer uns aus dem Elend und der Not der langen Kriegsjahre herausführen konnte, dann war nur er es, er und sein von ihm unzertrennlicher Waffengefährte, General Ludendorff. Deswegen war man sofort im Bannkreis dieser Männer, wenn man den Stadtbezirk von Kreuznach betrat. Die Straßen waren nach ihnen umgenannt, die Menschen drängten sich, wenn irgendwo die Kraftwagen des Feldmarschalls oder des ersten Generalquartiermeisters gemeldet wurden. Ging General Ludendorff an der Spitze der Operationsabteilung mittags oder abends zum Essen nach der Hindenburgvilla, oder trat der Feldmarschall selber vor sein Haus, dann kamen die kleinen Mädchen und Schulkinder mit Blumen heran.“ 
(zitiert nach: Karl Geib: Geschichte der Stadt Bad Kreuznach, a.a.O., S. 60)

 

Am 2. Oktober 1917 beging von Hindenburg unter großer Teilnahme der Kreuznacher Bevölkerung seinen 70. Geburtstag. Er wollte aber nicht gefeiert werden. Wie es sich für einen Feldherrn im Krieg gehört, dachte er auch dabei an den Krieg und sprach folgende Geburtstagsbitte aus:

Die Bitte von Generalfeldmarschall von Hindenburg zu seinem 70. Geburtstag in Kreuznach:
„… Wer an meinem Geburtstage für Verwundete und Hinterbliebene sorgt, in seinem Herzen das Gelübde zum zuversichtlichen Durchhalten erneuert, und wer Kriegsanleihen zeichnet, macht mir die schönste Geburtstagsgabe.“ 

Großes Hauptquartier, den 9. September 1917. Von Hindenburg, Generalfeldmarschall.
(zitiert nach: Karl Geib: Geschichte der Stadt Bad Kreuznach, a.a.O., S. 62)


Trotzdem wurde von Hindenburgs Geburtstag in Kreuznach festlich gefeiert. Die Stadt hatte sich – trotz Krieg – prächtig geschmückt und die meisten Kreuznacher jubelten von Hindenburg und den anderen Militärs rund um das Große Hauptquartier zu. Aber auch hohe und höchste Repräsentanten des Deutschen Reichs kamen nach Kreuznach und gratu- lierten Hindenburg zu seinem Ehrentag persönlich. So heißt es in einem zeitgenössischen Zeitungsbericht dazu:

Der Öffentliche Anzeiger machte Paul von Hindenburg mit einer Sonderseite zu seinem Geburtstag ein besonderes Geschenk:HIER lesen

Der 70. Geburtstag Generalfeldmarchalls von Hindenburg in Kreuznach:

„Als Erster erschien der Kaiser im Blumen geschmückten Heim… Blumen streuten auch die Schulkinder in schier unerschöpflicher Menge auf den Weg, den ihr Heros schritt, dem man es ansah, wie freundlich er die Huldigung der Kreuznacher Jugend entgegennahm… Vor dem Oranienhof, dem Gebäude des Großen Hauptquartiers, hatten sich die Offiziere desselben unter der Führung von General Ludendorff aufgestellt… Die Vereine marschierten mit Militärmusik ab. Im Oranienhof nahm Hindenburg noch die Glückwünsche der Militärbevollmächtigten der verbündeten Länder entgegen. Dann ging er wieder an seine ernste, verantwortungsvolle Arbeit. Bei der Mittagstafel, zu der auch der Reichskanzler Dr. Michaelis von Berlin erschienen war, feierte der Kaiser Hindenburg als den großen Feldherrn, dem das ganze deutsche Volk vertraue und den es von Herzen liebe.“
(Karl Geib: Geschichte der Stadt Bad Kreuznach, a.a.O., S. 62 f.)

Die Kreuznacher Bevölkerung jubelt Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg an seinem 70. Geburtstag am 2. Oktober 1917 zu (Quelle: Stadtarchiv Bad Kreuznach)

Kaiser Wilhelm II. (links) verabschiedet sich von Generalfeldmarschall von Hindenburg (Mitte),
2. Oktober 1917 (Quelle: Stadtarchiv Bad Kreuznach)

Am folgenden Tag berichtete der Öffentliche Anzeiger mit großem Aufmacher über den Geburtstag Paul von Hindenburgs im Großen Hauptquartier in Kreuznach. Dokument HIER lesen

 

Werbeplakat mit dem Generalfeldmarschall von Hindenburg für die Zeichnung weiterer Kriegsanleihen, 1917


Wie erlebten da – nur wenige Hundert Meter vom Großen Hauptquartier im Hotel Oranienhof entfernt – demgegenüber Hugo Salzmann, seine Mutter und seine Geschwister diesen Herbst und diesen Winter 1917/1918! Die Lebensmittel, gerade Fette, Milch und Eier, waren im Winter 1917/18 – wie schon im berüchtigten  „Steckrübenwinter“ 1916/17 – knapp geworden und konnten nur – wenn überhaupt – gegen Bezugsscheine gekauft werden. Noch Jahrzehnte später erinnerte sich Hugo Salzmann daran, wie seine Mutter erschöpft und krank durch tiefen Schnee zu Bauerngehöften stapfen musste, um dort zu flicken und zu nähen und dafür einen Liter Milch, zwei, drei Eier oder eine Speckschwarte als Lohn zu erhalten, um sie zu Hause, in zwei engen Kammern unter dem Dach, unter den Kindern aufzuteilen. 

Hugo Salzmanns Mutter erlebte dann noch, wie ihr Mann und Vater der Kinder aus dem Weltkrieg zurückkehrte. Er hatte überlebt – zwei Millionen Soldaten waren gefallen. Auch sie hatte überlebt – 800.000 Menschen waren in der Heimat verhungert. Aber die Kriegsjahre hatten zu sehr an ihren Kräften gezehrt. Im Jahre 1919 starb Hugo Salzmanns Mutter im Alter von 39 Jahren an Tuberkulose, an Schwindsucht wie man diese Krankheit der Armen und Schwachen früher nannte.

Hugo Salzmanns Vater stand dann im selben Jahr auch noch ohne Arbeit da. Denn Ende September 1919 wurde der Betrieb der Kreuznacher Glashütte endgültig eingestellt. Die Firma begründete den Schritt mit dem Ausbleiben der Kohlelieferungen aus dem von den Franzosen besetzten Saargebiet. Die Kreuznacher Glasmacher vermuteten aber eher eine Strategie der Gerresheimer Glashütte dahinter, Konkurrenten wie die Kreuznacher Glashütte aufzukaufen, um sie alsbald dann stillzulegen. Eine wichtige Rolle hierbei spielten sicherlich auch die vollautomatischen Flaschenmaschinen. Wie dem auch sei. Die Lage der Familie Salzmann war mit der Arbeitslosigkeit des Ernährers und dem Tod seiner Frau 
und Mutter der inzwischen fünf Kinder trostlos. 

Ein Bild der allgemeinen Situation gibt das das Mundartgedicht von Christel Triquart: die „Glasspatze“ (zit. nach: Degenhard May: Die Flaschenfabrik Kreuznacher Glashütte 1865 – 1919, a.a.O.,  S. 108) 

Die Glasspatzen In "Mundart" gesprochen: