Kapitel 7: Verfolgt in Hitler-Deutschland

 

Gefangen in Castres.

 

Als Hugo Salzmann Anfang Oktober 1941 vom Konzentrationslager Le Vernet ins Gefängnis Castres verschleppt wurde, waren Hitler und sein NS-Staat im Zenit ihrer Macht. Sie hatten nicht nur Polen erobert, sondern im Westfeldzug auch die  Niederlande, Belgien und Luxemburg überrannt, den Nordteil Frankreichs besetzt und den Südteil zur Kollaboration gebracht, Jugoslawien und Griechenland hatten sie überfallen und waren zuletzt am 22. Juni 1941 in die Sowjetunion einmarschiert. Anfang Oktober 1941 kam es zur Schlacht um Moskau. Dabei blieb nach Raum- gewinnen die Operation allerdings stecken. Während so die Deutsche Wehrmacht vor Moskau stand und die allermeisten Deutschen ihrem „Größten Feldherrn aller Zeiten“ huldigten, wurde Hugo Salzmann von der Vichy-Regierung der Gestapo ausgeliefert.

Zur Vorbereitung der Auslieferung brachten die Franzosen Hugo Salzmann in einem französischen Militärwagen mit einem großen „Rote Kreuz-Zeichen“ nach Castres in ein altes Gemäuer. Im Mittelalter war es ein Kloster der Albigenser gewesen. Später, wohl nach der napoleonischen Säkularisation, diente es als Gefängnis. Auch diese Funktion verlor es und stand dann leer. 

Als die Franzosen für Auslieferungen wie die Hugo Salzmanns einen Haftort brauchten, wurde das Gemäuer wieder Gefängnis.

Rudolf Leonhard, der wenige Wochen später Hugo Salzmann auf dem Weg in die Auslieferung folgte, beschrieb das Gefängnis von Castres in dem Gedicht „Hier wohnen wir“. 

 

 

Hugo Salzmann schöpfte trotz allem ein wenig Hoffnung, als ihm ein französischer Kapitän folgendes erklärte: 

Das „Ehrenwort“ des französischen Offiziers:

„Meine Herren! Ich komme im Auftrag der französischen Militärregierung. Ich versichere Ihnen, dass Sie nicht zu befürchten haben, nach Deutschland oder an die Gestapo ausgeliefert zu werden. Sie stehen unter unserem Schutz. Als Offizier der französischen Armee gebe ich Ihnen mein Ehrenwort.“ 

 

Doch was war in dieser Situation dieses Ehrenwort wert!?

Wie sich zeigen sollte, nicht viel. Denn schon bald kam Hugo Salzmann mit seinen Mitgefangenen nach Moulins in ein altes Schloss. Es war voll mit deutschen Emigranten, deren Auslieferung bevorstand, und auch mit französischen Gefangenen. Von dort ging es unter der Bewachung von deutschen Feldgendarmen erst im Militärwagen zum Bahnhof und dann im Gefängnisabteil eines Zuges nach Paris. Vom Pariser Bahnhof St. Lazare kam Hugo Salzmann ins Prison de Santé. Dann erfuhr er den Zweck  seines Transports nach Paris: ein Verhör bei der Gestapo. 

Sofort rekapitulierte Hugo Salzmann seine Zeit in Frankreich:

Hugo Salzmann: Was können sie von dir wissen?

„Was können sie von dir wissen? Sechs Jahre Emigration in Paris. Sechs Jahre Widerstandsarbeit gegen den Hitler-Faschismus. Literatur „’Volkszeitung’, Illustrierte, Rundschau, Internationale, Braunbuch, Zeitungen und Broschüren der Internationalen Brigaden. Die illegale ‚Tribüne’, ‚Rote Fahne’, unzählige Aufrufe und die monatlich mit einer Auflage von mehreren tausend auf Abzugsapparat hergestellte ‚Trait d’Union’ in französischer Sprache, die in den Renault-Werken einen hohen Absatz hatte.

Haben sie das unfertige Manuskript meiner Autobiografie, das Lore Wolf in Hans Marchwitzas kaltem Hotelzimmer mit knurrendem Magen auf einer klapprigen Schreibmaschine abtippte, gefunden? – Die rue St. Sebastian! Die ungarische Künstlerfamilie… Was wissen sie vom Schutzverband der deutschen Schriftsteller in Paris? 

Wenn sie das Manuskript haben, ist die Rübe weg!

Namen, Persönlichkeiten, tapfere Genossen und Genossinnen, herrliche Menschen ziehen an mir vorüber. Nein, Freunde, ich habe meinen Weg gewählt und gehe ihn zu Ende. Eine ungewöhnliche Ruhe überfällt mich.“

 

Das Gefängnis „La Santé“ in Paris

Bei der Gestapo im Innenministerium war alles anders, als es Salzmann erwartet hatte. Zwar hieß es: „So, Freundchen, jetzt reden wir deutsch!“ und der Gestapomann blätterte in einem Aktenbündel hin und her. Aber anstelle von Vorhalten und Schlägen fragte man ihn nach seinen Freunden aus: „Sag mal, kein Drumherum, wen kennst du von deinen Freunden? Warst in Paris, in Vernet… Na, da kennste ja genug aus der Kommune. Also, den einarmigen Saarländer, den kennst du bestimmt!“

Hugo Salzmann kannte ihn nicht bzw. wollte ihn nicht kennen. Der Gestapobeamte blätterte noch einmal in seinem Aktenstapel – aber er fand nichts gegen Salzmann, weil er nichts gegen ihn hatte. Wie Hugo Salzmann später erfuhr, waren nämlich die in Paris über ihn angelegten Akten verloren gegangen! Dem Gestapomann blieb zum Schluss nur noch die Drohung: „Gnade dir Gott, Freundchen, die nächsten Tage gehst du auf Reisen!“

Erst einmal brachte ihn die deutsche Feldgendarmerie zurück ins Prison de Santé. Wenige Tage später kam Hugo Salzmann tatsächlich „auf Transport“. Vom Gare de l’Est ging es im Zug zunächst ins Gefängnis nach Trier und dann weiter ins „Reich“ – ins Gefängnis von Koblenz. 

Hugo Salzmann erzählt von seiner Auslieferung an die Gestapo und seine Überführung nach Koblenz:

 

 

 Im Gefängnis in Koblenz.

 

In den „streng vertraulichen“ Meldungen „wichtiger staatspolitischer Ereignisse“ des Reichssicherheitshauptamtes – Amt  IV – Nr. 8 vom 18. Februar 1942 heißt es dazu:

Meldung über die Festnahme Hugo Salzmanns und seine Verbringung nach Koblenz:

„Aufgrund der Ausschreibung im „Deutschen Fahndungsblatt“ wurde der kommunistische Emigrant Dreher Hugo Salzmann, (geb. am 4.2.1903 in Bad Kreuznach) in Frankreich festgenommen und mittels Sammeltransports in die Stapostelle Koblenz überführt. S. war früher Funktionär der KPD sowie kommunistischer Stadtverordneter in Bad Kreuznach. Nach der Machtübernahme war er in das Saargebiet und später nach Frankreich emigriert.“ 

 

Wieder stand Salzmann vor einem alten Gemäuer. Auch dies war ein ehemaliges Kloster, ein Karmeliterkloster, das in der napoleonischen Zeit des Rheinlandes  säkularisiert wurde und seitdem als Gerichtsgefängnis von Koblenz diente. Hugo Salzmann beschrieb es so:

Hugo Salzmann über seine Einlieferung in das Gefängnis von Koblenz:

„Karmeliterstraße 1a. Druck auf die Klingel – durch die kleine Tür – Eingangshof – abgeliefert wie eine Ware.“ Und mit einem kleinen Stups und der Bemerkung: „So, mal rein zu deinen Klosterbrüdern“ verschwand ich wieder hinter dicken Mauern.

 

Das Gefängnis von Koblenz- ein ehemaliges Kloster im Anschluss an die Karmeliterkirche um 1900 
( Quelle: Förderverein Mahnmal Koblenz)

Dort traf er alte Bekannte – mit Freude und mit Schrecken.  So z. B. Michael Nau aus Dörrebach, einen alten Propagandisten für die KPD im östlichen Soonwald oder den sozialdemokratischen Funktionär Jupp Füllenbach aus Idar-Oberstein. – Aber auch andere, wie einen Kreuznacher, der jetzt bei der Gestapo arbeitete. Salzmann konnte sich an seinen Namen nicht mehr erinnern, wohl aber daran, was dieser Gestapomann er- zählte, dass er Salzmann als Stadtrat und führenden Funktionär der KPD, vom antifaschistischen Kampfbund und von der Gewerkschaft her kannte. Voller Häme und Genugtuung stellte der Gestapomann fest, dass kein kommunistischer Funktionär mehr in Freiheit sei und man Salzmann nach dem Reichstagsbrand geradezu gejagt habe: Die gesamte SA, die SS und die Polizei im hessischen Gebiet habe den KPD-Stadtrat Salzmann gesucht. Ein Plakat hätten sie an dem SA-Lokal auf der Nahebrücke angebracht: „800.—Mark Belohnung auf den Kopf des Kommunisten“. Das hessische Dorf Planig hätten die SA, die SS und Polizeigendarmen zweimal abgesperrt, an der Spitze der Suchkolonne der berüchtigte SA-Sturmführer Christian Kappel aus Roxheim (von dem Hugo Salzmann wusste, dass er wegen Bandendiebstahls vorbestraft war). „Die Kugel ist schon gegossen für Salzmann“, war seine mehrfach wiederholte Drohung. 

Und da im Gefängnis von Koblenz stiegen in Hugo Salzmann wieder die Bilder von seinem Untertauchen in Planig hoch: „Umringt von ‚alten Kämpfern’: Häuser, Mayer, Gröhnhoff, Flachenäcker usw. und alle schwer bewaffnet. Marschtritte der SA und der SS, das Pferdegetrappel des Reitersturms, die bangen Stunden, die Angst vor dem Entdecktwerden, die Ohren sausen, die Gedanken rasen – als wäre es gestern gewesen – Gedanken…“

Einen anderen Kreuznacher erkannte Hugo Salzmann sofort und wusste auch seinen Namen: Friedrich David Müller. Er hatte seine Dienststelle unter der Adresse „Vogelsang 1 - 3“. Aber was so heimelig klang, war die Gestapozentrale für den Regierungsbezirk Koblenz, sie war in dem früheren Gebäude der Reichsbank, Außenstelle Koblenz, untergebracht. Es war wohl der gefürchteste Ort in ganz Koblenz. Berüchtigt waren die Kellerräume, die früheren Tresorräume. In diesem „Hausgefängnis“ konnte die Gestapo wochenlang Häftlinge einsperren und foltern, ohne dass auch nur der leisteste Schrei nach draußen drang.
 
Gefoltert wurde Hugo Salzmann nicht. Der Gestapobeamte Müller, der offensichtlich eine etwas höhere Position bekleidete und die Kreuznacher SS-Männer Flachenäcker, den Jüngeren, und den einbeinigen Fritz Hauptmann unter sich hatte, gab sich fast jovial. Offenbar wussten er und die Gestapo in Koblenz genug über Hugo Salzmann, so dass sie es nicht nötig hatten, seinen Willen zu brechen und ihn zu Aussagen zu zwingen. 

Das ehemalige Reichsbankgebäude von Koblenz, seit ca. 1936 als Gestapozentrale genutzt.
Blick von der Strasse  „ Im Vogelsang“  (Quelle: Förderverein Mahnmal Koblenz)

Aber eins wollte Müller dann doch von Salzmann – wobei er sein Anliegen mit einem kleinen Ritual begann: Vor dem halb verhungerten Hugo Salzmann holte er sein Frühstück aus der Schreibtischschublade, einen herrlichen Apfel und belegte Brote. Salzmann lief das Wasser im Mund zusammen. Müller wickelte seine Brote aus dem Papier. Das Papier und einen Bleistiftstummel reichte er dann Salzmann mit dem Bemerken, bis morgen solle er einen bestimmten Text dreimal abschreiben. Der Hintergrund dieser Schreibübung war Salzmann nicht klar, es blieb ihm aber nichts übrig, als der Anordnung nachzukommen. Erst später, ein Jahr später, wurde ihm unter ganz anderen Umständen schlagartig klar, welche Gefahr dieses kleine Diktat für ihn bedeutete.

Das Gestapogebäude Koblenz, Blick vom Schirrhof (heute: Regierungsstraße) mitte der1930er Jahre
(Quelle: Stadtarchiv Koblenz)

So gingen die Tage dahin. Die einzige Beschäftigung, mit der sich Hugo Salzmann die Zeit vertreiben konnte, war das damals in Gefängnissen übliche, stumpfsinnige Tüten kleben. Ansonsten gab es manches, was ihn in Koblenz sehr verwunderte. Dazu gehörte die Begegnung mit einem katholischen Priester. Diese und das Gespräch mit dem Gefängnispfarrer Paul Fechler sollte Hugo Salzmann sein Leben lang nicht vergessen.

Der Koblenzer Gefängnispfarrer Paul Fechler. (Foto nach dem Zweiten Weltkrieg)

Bericht von Hugo Salzmann über seine erste Begegnung mit dem Gefängnispfarrer Paul Fechler:

„Februar 1942. (…) Die Zellentür wird aufgeschlossen. Erstaunt schaue ich den im Türrahmen stehenden Pfarrer an. Ich gehöre keiner Religionsgemeinschaft an. Auf dem ganzen Weg der Inhaftierung betrat kein Pfarrer die Schwelle meiner Zelle.

„Guten Tag, Herr Salzmann!“ Eine gedämpfte Stimme, zu unerwartet. - Herr Salzmann - Herr, Herr! Das muss man erst mal fassen können. Und kein „Heil Hitler!“ Weit, weit liegt es zurück, unendliche Zeit. - Angesprochen werden mit Herr, Kamerad, Kollege, vertrautes Wort: Genosse – Vorname oder Familienname. Nur beim Transport von Gefängnis zu Gefängnis, beim Aufruf der Gefangenen hörte ich ohne „Herr“ im zackigen Kommandoton meinen Namen. In jedem Gefängnis kommt vor dem Namen auch eine Nummer. Diese Nummer ist deine Zellennummer. Der Wachtmeister hat nur zu rufen: „Zelle 175, Fertigmachen zum Transport!“ (…)

Nun steht dieser gesetzte, breitschultrige Pfarrer vor mir. Behält mich im Auge. „Wenn Sie mich nicht wollen, dann gehe ich wieder.“ Er hat offene Augen – vielleicht ein Funken Listigkeit – nein, nein, zu ernst blicken sie – trotz dem leichten Lächeln.

„Nein, Herr Pfarrer, kommen Sie mal rein.“ Er blickt nach links und rechts den Gefängnisgang entlang, dann steht er vor mir in der Zelle. „Herr Pfarrer, Sie haben das Gelübde des Schweigens abgelegt, Sie sind der einzige hier im Gefängnis, dem ich was anvertrauen kann – ich habe Frau und Kind, Verwandte, Ihnen kann ich für sie noch was anvertrauen.“ Es quillt aus mir heraus. „Herr Salzmann, ich komme nicht, um sie zur katholischen Kirche zurückzuholen.“


Hugo Salzmanns Verwunderung über diesen Besuch nahm weiter zu. Aber gleichzeitig fasste er auch Vertrauen zu diesem katholischen Priester, den er als einzigem bitten konnte, doch seiner Familie eine Mitteilung zukommen zu lassen. Aber gerade als Hugo Salzmann ihm seine Not und seinen Schmerz über die quälende Ungewissheit anvertrauen wollte, unterbrach ihn Pfarrer Fechler und erzählte seinerseits.

Hugo Salzmann erfährt durch Pfarrer Fechler vom Schicksal seiner Frau Julianna:

„Herr Salzmann, ich komme nicht, um sie zur katholischen Kirche zurückzuholen. Nein, ich kenne Ihren ganzen Lebenslauf, Ihr ganzes Leben.“ Wie soll er das wissen? Ruhig geht er nochmals an die offene Tür. Schaut gelassen links und rechts. Kommt zurück. „Ich kenne Ihr Leben. Ihre Frau hat es mir erzählt. Ein Jahr lang befand sie sich Ihnen gegenüber in der Abteilung Frauengefängnis. 10 Tage, im Januar 1942, bevor Sie hierher kamen, hat man sie in ein KZ gebracht. Ich wollte sie warnen vor einer Gestapoagentin, aber sie wollte nicht mit mir sprechen. Erst wie sie verraten war, kam ich zu ihr. Zu spät.
 
Diese Marquise Juana Maunela de Villevert de Villeneuve ist eine Agentin. War früher Tänzerin in Berlin. Heiratete in Paris einen bankrotten französischen Grafen. Die Gestapo benützt sie unter dem Deckmantel einer Emigrantin, verlegt sie in Zellen von politisch verhafteten Frauen, gibt sich als Leidensgenossin aus, um deren Vertrauen zu erhalten. Stellt Fragen – wenn sie genügend zur Belastung gehört hat, teilt sie es der Gestapo mit. 

Dann legt man sie aus der Zelle zu einem anderen Opfer. Dafür erhält die Agentin die Lebensmittelpäckchen von der Gestapo, die die Angehörigen den Verhafteten schicken. Die Agentin hat Ihre Frau gefragt: „Was schreiben die französischen Zeitungen über den Reichstagsbrand und über Stalin?“  Worauf sie geantwortet hat, die haben geschrieben, dass nicht van der Lubbe, sondern Göring ihn angezündet hat, und der Stalin gesagt hat, wer seine Schweineschnauze in den sowjetrussischen Garten steckt, bekommt drauf geschlagen.
 
Die Gestapo (…)   hat sie nach der Denunziation der Agentin erneut vernommen. Ihre Frau hat nichts bestritten. Das genügte – für das KZ. – Jetzt muss ich gehen, ich komme wieder.“

(…) Ein Händedruck. Eilig geht der Pfarrer. Ein Kopfwenden nach rechts, nach links, sachte schließt er die Zellentür.“


Damit hatte Hugo Salzmann eine erste Gewissheit über das weitere Schicksal seiner Frau Julianna – aber was für eine! Schmerz und Mitleid erfüllten ihn, und dabei war er zur Untätigkeit verdammt, ohnmächtig, hilflos und selbst in einer ganz schweren Lage. Und alles musste er mit sich selbst ausmachen. Hugo Salzmann war  wie benommen.

Hugo Salzmanns Reaktion auf die Nachricht:

„Die Wände erdrücken mich. Endlich weiß ich, wo meine Frau ist. Seit August 1940 weiß ich nichts mehr von ihr. Diese Verräterin, diese Gestapoagentin, schaffte sie ins Konzentrationslager. Jeder Widerstandskämpfer und jede –kämpferin wussten, KZ bedeutet täglich, stündlich, jeden Augenblick lebend neben dem Tod zu stehen. (---)

Tüten kleben. Pensum schaffen - aus. Da sitz ich. Gedanken rasen in der menschlichen Maschinerie Gehirn. Das Leben, der Kampf, der Widerstandskampf gegen diesen furchtbaren Machtapparat Faschismus, Hunger und Elend machen hart. Aber hier rollt Träne um Träne. Vor dem „Ich“ gibt es kein Schämen.“ (…)

Kein Zurück. Kein Weichwerden. Bleibe hart. Deinem Jugendideal, vom Vater, dem kämpfenden Glasarbeiter vor dem Ersten Weltkrieg geprägt, erhärtet durch Hunger, Elend der Kriegsjahre, es gibt kein Zurück. Hab den Weg gewählt – für Frieden – Fortschritt, niemals mehr Krieg – Kampf der Reaktion – gegen Hitler und Faschismus. Ich weiß, ein schwerer Weg. Hier in den Fängen der Gestapo. Aussichtslos.“


Aber das Leben ging weiter, es musste weiter gehen. Und wieder wurde Hugo Salzmann vom Karmelitergefängnis zwei Straßen weiter zum Verhör bei der Gestapo im „Vogelsang“ gebracht. Der Gestapomann Müller aus Bad Kreuznach hatte weitere Fragen an Hugo Salzmann:

Bericht Hugo Salzmanns über seine weitere Vernehmung durch die Gestapo:

„Gestapo-Müller: „Du kennst doch den Assmann von Kreuznach, den Philipp“ – „Ja, kenn ich.“ – „Mit dem haste dich doch in Paris getroffen.“ – „Nein, niemals.“. „Schreiben Sie“, er wendet sich an seine Sekretärin Stolzenburg, Witwe eines SS-Standartenführers,  „Er leugnet, mit dem Assmann sich in Paris getroffen zu haben, usw. Nun will ich dir beweisen, dass ihr beide ein Treffen gehabt habt.“ Aus seinen Akten zieht Müller ein Blatt. „Lies, ein Protokoll über eine Vernehmung Philipp Assmanns durch die Gestapo in Mainz.“ - Er war 1942 noch verhaftet worden. Die „Aussagen“ waren mit Philipp Assmann unterzeichnet. 

‚Soll er seine Angaben verantworten. Ich habe ihn nie gesehen.’ Konsequent bestritt ich, jemals Assmann in Paris gesehen zu haben. Wie ich später erfuhr, war die Unterschrift von Assmann gefälscht. Philipp war überzeugter Gegner der Nazis. Ein grundehrlicher Arbeiter. Er hätte sich eher totschlagen lassen, als Verrat zu üben. Meine felsenfeste Überzeugung.“


Tatsächlich hatten sich Philipp Assmann und Hugo Salzmann in Paris mehrmals bei Philipp Assmanns Schwager Louis und Schwester Emma getroffen – wie dies auch zuvor im Kapitel 4 geschildert ist. Bei seiner Rückkehr aus Paris nahm die Gestapo Philipp Assmann an der Grenze  sofort in Haft, transportierte ihn nach Mainz und wollte wissen, ob er in Paris Verbindung zu Hugo Salzmann gehabt habe. Philipp Assmann war standhaft und stellte alles in Abrede. Die Gestapo musste ihn freilassen. Um aber etwas in der Hand zu haben, fälschte sie die Niederschrift über das Verhör und setzte seinen Namen darunter. 

Die Behandlung der Gefangenen im Gefängnis Koblenz war nach der Erinnerung Hugo Salzmanns den Umständen entsprechend passabel. Die Wachtmeister waren meist ältere Beamte, waren Soldaten im Ersten Weltkrieg gewesen, kannten den Krieg und hatten viel erlebt. Sie hatten sich – um ihren Arbeitsplatz zu behalten – dem Regime angepasst, waren „Muss-Nazis“ geworden. Meist waren sie gute Christen, grüßten mit „Heil Hitler!“ und hüteten sich aber, „Guten Tag!“ zu sagen. Das waren so die Konzessionen. Es gab aber keine Schikanen gegenüber den aus politischen Gründen inhaftierten Gefangenen. Gleich, wortlos, exakt und nach Dienstvorschrift handelten sie und manchmal mit ein bisschen Menschlichkeit. Eine Gefahr für die Häftlinge waren sie nicht

Eines Tages im Mai 1942 betrat ein alter Wachtmeister Hugo Salzmanns Zelle und legte ein Tintenfass, einen Federhalter und einen kleinen Briefbogen neben die Tüten, die Salzmann gerade bearbeitete. Das war die Erlaubnis, an die Familie nach Hause zu schreiben! Hugo Salzmann atmete auf. Endlich, nach so vielen, vielen Monaten durfte er schreiben. Der erste Brief sollte an die Schwägerin Ernestine („Tinnerl“) in Stainz/Steiermark gehen. Sie wusste noch am ehesten etwas über Julianna und natürlich über den Sohn Hugo, den das Rote Kreuz ja vor gut zwei Jahren in ihre Obhut bringen konnte. Diese große Freude über die Schreiberlaubnis erhielt aber gleich einen kleinen Dämpfer, als der Wachtmeister weitere Anweisungen gab: „Aber – nur die 15 Zeilen beschreiben! Schreiben Sie mehr, dann wird Ihr Brief nicht befördert oder die Zensur löscht die darüber geschriebenen Sätze. Schreiben Sie nichts Verkehrtes, das wird auch gestrichen. Nachmittags hole ich alles wieder ab. Noch eins: Genehmigt sind nur alle vier Wochen ein Brief, und einen können Sie erhalten.“ 

Trotzdem war die Freude groß und eine ungeheure Belastung genommen. Sogleich plante Hugo Salzmann den Brief. Klein wollte er schreiben und viele Fragen stellen, nach Julianna, dem Jungen, wie es seinen Schwestern, seinem Bruder und seinem Vater geht, ihre Adressen schicken und ihnen allen seinen Aufenthaltsort mitteilen. Julianna selbst wollte er schreiben, es ginge ihm sehr gut. Das war die verabredete Sprachregelung. Sie wusste, was das „sehr gut“ bedeutet. Emigranten hatten oft genug erfahren müssen, dass sie verhaftet, ausgewiesen oder vom Emigrationsland über die Grenze in ein anderes Land angeschoben wurden. Schrieben sie „es geht mir gut“, wusste jeder, dass der Betreffende in einer gefährlichen Situation war. Das ließ die Zensur ruhig laufen, vielleicht mit spöttisch-bissigen Bemerkungen, da sie die konspirative Sprache nicht kannte..

Den ersten Brief – wohl Anfang Mai 1942 – schrieb Hugo Salzmann an seine Frau Julianna, von der er inzwischen wusste, dass sie ins Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück verschleppt worden war. Er hatte auch ihre Adresse in Erfahrung bringen können: Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück, Fürstenberg in Mecklenburg. Er muss auch ihre Häftlingsnummer und die Nummer des Blocks, in dem sie untergebracht war, gewusst haben, denn nach der Lagerordnung des KZ wurden Sendungen ohne diese Zusätze nicht zugestellt. Dieser Brief von Hugo Salzmann aus dem Gefängnis in Koblenz an seine Frau Julianna („Julerl“) im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück ist nicht überliefert. Ebenso wenig existiert noch die Antwort von Julianna Salzmann an Hugo im Gefängnis Koblenz. Von diesem Kontakt wissen wir aber aus dem zweiten Brief, den Hugo Salzmann am 8. Juni 1942 aus dem Gefängnis an seinen Sohn Hugo und seine Schwägerin Ernestine („Tinnerl“) in Stainz/Steiermark. Darin schrieb Hugo Salzmann: 

Brief von Hugo Salzmann vom 8. Juni 1942 aus dem Gefängnis in Koblenz an seinen Sohn Hugo und an die Schwägerin Ernestine(Teil1):

Mein lieber kleiner herzensguter und braver Sohn Hugo und liebe Ernestine!

Wie lange hab ich Dich nicht mehr gesehen. Jahre sind es geworden, und wie viele Jahre wird es noch dauern? Das Wiedersehen? Mein über alles geliebter Junge, wie oft war mein Herz schon weich und meine Augen feucht, wenn ich in mancher schwermütiger Stunde Deiner gedenke. Wie drücke ich Dich dann in Gedanken an mein Herz, liebkose und küsse Dich, erzähle Dir im Geiste schöne Kindermärchen, sehe wie lieb Du ...(?) wie Du läufst und freust, Deine Kinderaugen leuchten. Sehe in Gedanken die Mama dabei stehen, wie sie sich freut und stolz ist auf ihren kleinen Sohn, den ‚lieben Bub’ wie sie immer sagte. 

Ja, lieber Bub Klein Hugo, von Tag zu Tag wirst Du größer, wirst ein großer Junge, der fleißig in der Schule lernt: Rechnen, Schreiben und noch mehr, um ein kluger Mensch zu werden. Es freut Deinen Papa sowie die Mama, wenn sie hören, dass Du brav und lieb zur Tante bist, dazu fleißig in der Schule. Lerne gut, mein kleiner Sohn, sei aufmerksam im Leben und anständig zu allen Menschen. Soll Papa das große Glück haben, Dich im Leben wieder gesund zu sehen, wieder eine Familie mit Dir und der lieben Mama zu sein, dann soll die Liebe meines Herzens, all seine Wärme Dir, unserem lieben Bub, gehören. Dann will ich Dich herzen und drücken und als Dein großer Freund weiter mit Dir durchs Leben gehen.
 
So schicke ich heute mit den Schwalben, die piepsend und schreiend an meiner Zelle vorbei fliegen, mit aller Herzenswärme, die ein Vaterherz hat, die besten liebsten Grüße für Dich und Deine Tante mit. Bleibe gesund, mein Junge, helfe Tante mit Arbeiten, wo sie Dich braucht, mache ihr Freude, und Du wirst sehen, dass Tante Ernestine auch zu Dir lieb sein wird, und Freude Dir bereitet. Papa sagt immer, wenn man seine Arbeit getan hat, darf man auch mit den anderen Jungen spielen. Gelt, lieber Bub, mit 9 Jahren kann man das alles schon verstehen. 

Wenn Du Mama schreiben tust, grüße sie lieb von Papa, und schreib ihr, dass ich gesund bin und täglich an die liebe Mama denken würde. Nochmals, lieber guter Bub, bleibe gesund, viele Küsse schicke ich Dir mit den schönen Schwalben, bleibe lieb zur Tante, vergesse Papa und Mama nicht. In Gedanken drücke ich Dich fest, fest an mein Herz, nochmals tausend Busserl von Deinem lieben Papa Hugo.“

Nach dieser Ansprache und den Ermahnungen an seinen Sohn Hugo schrieb Hugo Salzmann in dem zweiten Teil des Briefes an seine Schwägerin Ernestine.


Brief von Hugo Salzmann vom 8. Juni 1942 aus dem Gefängnis in Koblenz an seinen Sohn Hugo und an die Schwägerin Ernestine (Teil 2):

„Liebe Schwägerin Ernestine,
 
küsse meinen Jungen für mich. Du gibst ihm ein Mutterherz. Das weiß ich. Ich wünsche, im Leben noch einmal Gelegenheit zu bekommen, Dir, liebe Schwägerin, sowie Deinem lieben Manne, das Gute, was Ihr tat, mit dem gleichen danken zu können. Vorigen Monat hat mir auch Julerl geschrieben. Sie hatte meinen Brief erhalten. Darüber sie sich freute. Ebenso schrieb sie mir, dass sie noch gesund sei, unser Bub ihr oft schreibe und auch seine Malkunst dabei zeige. Dies freut mich in meiner Zelle sehr. Grüßt sie recht lieb, wenn Ihr wieder an Julerl schreibt. 

Klein Hugo soll auch an seine Tanten Käthe Daut und Anni Lindner eine Geburtstagskarte zum 17. Juni schicken. Beide haben an einem Tag Geburtstag. Das wird sie sehr freuen. Meine Schwester Käthe schrieb mir, dass sie immer an unseren Kleinen denken werde und helfen, wo es geht. Ich kann verstehen, so ein Junge wächst aus seinen Kleidern, zerreißt, macht schmutzig und so weiter, da muss man viel Liebe zu einem Kinde haben. Wenn möglich kannst Du, liebe Ernestine, auch mal an meine Schwester Anni schreiben. Sie ist Schneidermeisterin und kann leicht ein Hemdlein oder Hose für Klein Hugo nähen. Nun, Du wirst schon sehen, wie man auskommen muss.
 
Hoffen wir, dass unsere Strafe nicht allzu hart werde, um das Familienglück wieder finden zu können. Dir, liebe Schwägerin Ernestine, sowie Deinem Gatten und all Deinen Geschwistern alles Liebe und Gute, tausend Busserl nochmals für Klein Bub. 

Dein Schwager Hugo.“

14 Tage später kam der Antwortbrief bei Hugo Salzmann an. In seine Freude darüber mischte sich auch große Sorge. Denn der Brief war von der Briefkontrolle geöffnet worden. Das war an sich nichts Neues, denn Hugo Salzmann wusste, dass alle Gefangenenpost zensiert wurde. Neu war aber die Zensurstelle. Der linke Briefkopf war überklebt mit: „Zensur Oberreichsanwalt Werner, Berlin“. 

Das hatte eine neue Qualität. Denn „Oberreichsanwalt“ war die Staatsanwaltschaft, die für Anklagen zum Volksgerichtshof zuständig war. Und Oberreichsanwalt Werner war der Chefankläger beim Volksgerichtshof in Berlin. Der Volksgerichtshof war vor allem für Hoch- und Landesverrat zuständig. Hugo Salzmann spürte, dass der Strick enger gezogen wurde. Es ging bei ihm offensichtlich um ein Verfahren wegen Hoch- und Landesverrats vor dem Volksgerichtshof in Berlin – da ging es um seinen Kopf.  

Und wieder befragte sich Hugo Salzmann, was „die“ wohl über ihn wüssten, welches Beweismaterial sie gegen ihn in Händen haben könnten. Und dann kamen die Bilder von früher wieder in ihm hoch:

Hugo Salzmann über mögliche Beweismittel gegen ihn für einen Prozess:

„Ich habe mich nicht belastet, noch einen Mitkämpfer. Alle Widerstandskämpfer, alle Genossen und Genossinnen ziehen in Gedanken an meinen Augen vorüber. Jeder und jede ohne Makel. Da kenne ich keinen, der schwach wurde. Alle haben sich im Widerstandskampf bewährt. 

Agenten, Mitarbeiter des zweiten Büros im Lager Vernet kenne ich (…) Was haben sie verraten? Hat man sie ausgeliefert? Welche Unterlagen lieferte der Lagerkommandant an die Gestapo? 

Bereite mich aufs Schlimmste vor. Ein Rechtsanwalt? Zum Lachen – wäre es nicht so ernst. Der Gefängnisgeistliche? Ein tapferer katholischer Pfarrer. Dieser Pfarrer Fechler hat Mut. Er beweist es, hat Vertrauen zu mir. Dieser Pfarrer ist kein Nazi, nein, verabscheut Gestapo und SS. Wagt, politische Gefangene vor Spitzeln und Gestapoagentinnen zu warnen. Riskiert die eigene Freiheit – ein tapferer Pfarrer. „Bleiben Sie, wie Sie sind“, waren stets seine Worte, wenn er sich nach kurzem Besuch verabschiedete. Kein Wort über die Bibel.“

 

Immer wieder gab es aber auch kleine Lichtblicke. Dazu gehörten gerade  die Briefkontakte. Der Briefwechsel war von allem abgesehen auch deshalb schwierig, weil Hugo Salzmann nur bestenfalls einmal im Monat einen Brief schreiben und einen erhalten durfte. Wenn sich dann die Post auf mehrere Angehörige verteilte, erhielt der eine und auch andere Angehörige nur alle paar Monate Post. So war es auch zum Beispiel mit einem Brief von Hugo Salzmann an seinen Vater und dessen 2. Frau (die er in dem Brief „Mutter“ nennt) vom 3. August 1942. Es war der erste Brief an seinen Vater überhaupt und mit ihm gratuliert er seinem Vater im Voraus zu dessen 70. Geburtstag am 22. November 1942. 

Brief von Hugo Salzmann vom 3. August 1942 an seinen Vater:

„Mein lieber Vater und Mutter!

Zum ersten Mal, glaube ich, in unserem Leben schreibe ich einen Brief an Dich. Man soll es kaum glauben, doch ist es so. Dabei wirst Du, lieber Vater, am 22. November siebzig Jahre. Ja, Vater, ein schweres, schaffensreiches Leben liegt hinter Dir. Wie oft gedachte ich meiner Jugend. Nie vergaß ich Deinen schweren Beruf als Flaschenmacher, mit dem Du Frau und fünf Kinder ernährtest. Wie oft sah ich Dich vor Augen, als wäre es heute, wenn ich Dir Essen zur Glashütte brachte. Der brennende Ofen. Deine geplatzten Hände, Dein schweißbedeckter Körper und Deine immer trockene Kehle. Ja, mein Vater hatte immer Durst. Bier war Deine Arznei gegen Schwindsucht. So erhieltest Du Dich gesund, warst einer der besten Flaschenmacher unter den Glasbläsern. Und wie schwer war Deine Kindheit. Nichts habe ich vergessen. Wie Du nach schwerer Arbeit uns Kinder mit der Ziehharmonika in den Schlaf spieltest, oder in lustiger Gesellschaft zum Tanze und Ausfluge auf Steigerenhof.

Aber auch wie unsere Mutter für Dich und uns sorgte. Kochte, nähte, flickte, strickte, wäschte (wusch), uns Leute sauber hielt und gut erzog. Wie oft, lieber Vater, hab ich an all dies schon gedacht. Aber tausend Mal. Ich danke Dir für alles Gute, was Du mir und auch meinen Geschwistern gabst. Immer hast Du nur das Beste gewollt, selbst wenn Du auch einen Fehler begingst. 

So kannst Du, lieber Vater, zufrieden Rückschau halten, wenn Du Deine „Siebzig“ voll machst.  Viel Schmerz, viel Leid, aber auch viel Sonne hatten Deine Jahre. Ich wünsche Dir zu Deinem siebzigsten Geburtstage, dass Du weiter Deine Gesundheit und geistige Frische behältst, um noch viele Jahre erleben zu können, und ich wünsche, Dich wieder zu sehen mit Frau und Kind. Ein kleiner Sohn, dem Du viel Gutes tust, hat zwanzig Tage früher Geburtstag als Du, aber dafür wird er erst zehn Jahre alt. Ein Alter, mit dem Du, lieber Vater, schon in der Flaschenfabrik arbeiten musstest. Ja, wie lange ist dies für Dich schon her! Dennoch – wie schnell vergeht die Zeit! Bleibe gesund, lieber Vater, ich möchte Dich wieder sehen. 

Was macht Mutter? Hoffe, dass auch sie noch rüstig und gesund ist. Nach dem Tode unserer Mutter hat auch sie als zweite Mutter versucht, alles mit uns zum Guten zu machen. Grüße sie recht herzlich. Erst jetzt erfuhr ich, dass mein Stiefbruder Hans schon sechs Jahre tot ist, es schrieb mir dies Anni. Ebenso von Kurt seiner Magenoperation. Ich wünsche Kurtel nur das beste Gelingen und frische Gesundheit. Ich weiß, was es heißt, krank zu sein mit dem Magen. Grüße auch Mutters Paul und Maxe. Wünsche allen gute Gesundheit. Meines Lieblingsschwesterleins Änne Brief habe ich erhalten. Sie schrieb mir glücklich, dass ihr lieber Mann 14 Tage auf Urlaub war. Welch eine Freude für sie sowie für ihre beiden Kleinen. Ich fühle mich beruhigt und zufrieden, wenn ich höre oder lese, dass die Schwestern mit ihren Männern glücklich und zufrieden leben.

Nur Tillchen musste diese unglückliche Ehe durchmachen. Dieses Vogtland muss herrlich sein. Sie selbst fühlt sich im eigenen Häuschen geborgen. Hat ihr täglich Brot, ihre lieben braven Kinder, dazu die ruhige Umgebung für ihre Gesundheit. Ich danke auch ihr für jedes liebe Wort für mich und meine Familie, danke ihr, dem lieben Schwesterherz, für alles Gute, das sie tun kann, für Frau und Kind. Jawohl, lieb Anni hat recht, auch ein Brief oder Kärtchen macht große Freude. 

Ich hoffe trotz allem Schweren, das mir noch bevorsteht, erleben zu können einen Besuch bei Euch. Auch dieser schwere Kelch wird vorübergehen. Käthe und Tillchen haben mir auch geschrieben. Käthe weint viel über unser Schicksal. Hab ihr geschrieben. Sie soll dies nicht mehr tun wegen ihrer Gesundheit. Dieses Gedenken meiner Geschwister macht mir viele Freude. 

Für heute, lieber Vater und Mutter, bleibt innig geküsst, grüßt Anni und Kinder, Euer  Hugo.“  

 

Noch schwieriger war der Briefkontakt Salzmanns mit seiner Frau Julianna im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück. Denn im KZ war die Zensur der Sendungen noch strenger und außerdem war der Umfang der abgehenden Briefe noch geringer. Von Oktober 1942 ist einer der wenigen Briefe  Juliannas an Hugo Salzmann  erhalten geblieben. 

Frauen im KZ Ravensbrück bei Erdarbeiten mit einer schweren Lore
( Quelle: Bundesarchiv/Wikipedia)

Formularmäßiger Kopf für Briefe aus dem KZ Ravensbrück
mit dem Auszug aus der Lagerordnung (Quelle: privat)

 

Brief von Julianna Salzmann von Oktober 1942 aus dem Frauen KZ- Ravensbrück an ihren Ehemann Hugo Salzmann im Gefängnis Koblenz:

Liebster Hugo! Deinen lieben Brief habe ich erhalten, leider konnte ich nur eine Hälfte lesen, schade, habe mich sehr gefreut und hab vielen Dank. Wollte heute erst an Hugo schreiben, er hat am 2.11. Geburtstag, es ist schon der vierte, wo Du nicht bei ihm bist, ach ja, und er hat Dich so lieb. Gerne wäre ich bei ihm, er hat mir so lieb geschrieben, er freue sich schon, dass ich im Herbst heimkomme. Ja unser guter Bub hat mit uns auch schwere Zeit mitgemacht, aber jetzt hat er es gut. Mir geht es so, den Kopf lasse ich nicht hängen, habe hier einen lieben Menschen, wir verstehen uns gut und so erträgt man das Schwerste. Um mich, liebster Hugo, habe keine Sorge, es soll uns eben nicht anders gehen. Wie oft denke ich über alles nach, mehr als elf Jahre haben wir treu zueinander gehalten und ich denke, ein bisschen Glück werden wir schon auch noch haben. Würde mich freuen, wenn Tilla Dich besuchen könnte. Grüße alle Lieben, und hoffe, sie bald wieder zu sehen. Bleib gesund, mein lieber Hugo, und sei innigst gegrüßt und geküsst,

Deine Julerl  

Brief im Original HIER lesen


Julianna Salzmann bestätigt die Zensurbedingungen (Quelle: privat)

Der so wichtige Kontakt zur Familie, der Freude, Kraft und Abwechslung in die Einsamkeit des Gefängnisses brachte, blieb aber nicht nur durch die Briefe aufrecht erhalten. Ende Oktober 1942 erhielt Hugo Salzmann sogar Besuch von seiner Schwester Anni, die den weiten Weg von Mylau im Vogtland nicht scheute, um ihren Bruder zu besuchen. Es war ein sehr herzliches Wiedersehen. 17 Jahre hatten die beiden keinen persönlichen Kontakt mehr miteinander gehabt. Nun konnten sie sich unter Aufsicht des Wachpersonals gerade einmal eine Viertelstunde lang sehen und sprechen. 

Zu Weihnachten und zu Neujahr erhielt Hugo Salzmann einige Post.
  
Ein längerer Brief  und ein Kartengruß kamen von Schwägerin Ernestine. Hugo Salzmann beantwortete ihn mit Brief vom 20. Dezember 1942. Diese Zeilen geben einen kleinen Einblick in Hugo Salzmanns Denken und Fühlen und lassen seine Ungewissheit und Sorge um seine Familie und sich selbst erahnen.

Brief Hugo Salzmanns vom 20. Dezember 1942 an seine Schwägerin Ernestine und seinen Sohn Hugo:

„Deinen lieben Brief vom 2. 12. sowie Euren Kartengruß für Weihnachten und Neujahr mit vielem Dank erhalten. Ja, noch wenige Tage es ist Weihnachten und dann das neue Jahr 1943. Zum vierten Male jährt sich die Trennung meiner Familie. Welch schwere Zeiten liegen darinnen, welch schwere Leiden und Sorgen. Ach, liebe Schwägerin, was wird mir das neue Jahr für einen schweren Leidensweg bringen? In vielem Grübeln und Denken sehe ich den schwersten Weg meines Lebens. Trotzdem muss man sich aufrecht halten. Kopf hoch, sagt man sich, in vielen schweren Stunden. Ich danke Julerl für ihren tapferen Lebensmut sowie ihr tapferes Gedenken an mich, Klein Hugo und alle Lieben. Auch Dir, liebe Schwägerin, danke ich innig für alle die lieben Worte, bei denen Du meiner gedachtest, aller Liebe, Mühe und Sorgen, die Du brauchtest für unseren Sonnenschein Klein Hugo sowie für meine treue liebe Julianna. Wie freut es mich, dass die gute Julerl Päckchen erhält. Auch meine Geschwister, liebe Schwägerin, schickten und tun es weiterhin. Welche Sehnsucht liegt in unseren Herzen, sich wieder zu sehen, wie groß und mächtig schlägt der Wunsch, ganz besonders jetzt bei den Feiertagen. Mein Weihnachtswunsch sei der, Julianna möge recht bald bei Dir und unserem lieben Sonnenschein Klein Hugo sein. 

Mein lieber Herzensjunge Klein Hugo!

In wenigen Tagen ist Weihnacht. Hab Du, lieb Hugolein, viel Freude Es ist Deine vierte Weihnacht und die zweite ohne Vati und Mutti. Das gleiche ist’s mit dem neuen Jahr. Mein Hugolein, mein lieber guter Bub, für 1943, für alle weiteren Jahre Deines Lebens gibt Dir Vati seinen Segen. Bleibe lieb zur Mutti, bleibe brav, werde ein guter Mensch. Dein Vati geht im neuen Jahr einen schweren Weg. Möge das Schicksal mir gut sein. Sollten wir uns nie wieder sehen, mein Herzensjunge, Dein Vati war kein schlechter Mensch. Ich wollte immer nur das Gute. Bleibe gesund, mein Junge, grüße unsere liebe Mutti. Wünsche ihr auch von mir viel Glück im neuen Jahr, ebenso Tante Ernestine und Luise.

Tausend Bussi, viel Glück von ganzem Herzen im neuen Jahr 1943 wünscht Dir Dein Vati Hugo. Auf Wiedersehen.“ 

 

Der erste Brief des neuen Jahres kam von Hugos Schwägerin Ernestine und Sohn Hugo aus Stainz/Steiermark. Hugo Salzmann beantwortete ihn mit seinem Brief vom 23. Januar 1943. Er zeigt seine ganze Sorge um seine Familie, insbesondere um seinen Sohn Hugo, und das soziale Netz, das sich um die beiden Häftlinge Hugo und Julianna Salzmann gebildet hatte.

Brief von Hugo Salzmann vom 25 Januar 1943 an die Schwägerin Ernestine und Sohn Hugo:  (Teil 1)

„Liebe Schwägerin Ernestine und Klein Hugo!

Deinen lieben Brief vom 3. Januar erhalten. Dafür herzlichen Dank. Wie ich an Deinem Brief ersehen kann, ist bei Euch noch alles gesund, dies freut mich besonders. Auch ich bin noch gesund. Nun ist Weihnachten und Neues Jahr vorüber. Meine Eltern und Geschwister schrieben mir, dass sie alle an unseren lieben Buben gedacht hatten. So hatte er doch seine große Freude. Aus(?) dieser Freude sehe ich auch an seinem Brieflein, wie stolz er ist auf den neuen Förstermantel, den er erhielt. Man sieht, er ist bei Dir und mit Dir, liebe Schwägerin, sehr zufrieden. Werde ihm auch so schwere Briefe wie den zu Neujahr nicht mehr schreiben. Den soll er sich aufheben. In 10 Tagen hat seine Mutti Geburtstag, am 5. Julerl wird 34 Jahre. Tags zuvor, am 4. Februar, werde ich 40. Jahre. Habe meiner lieben Julerl, schon anfangs des Monats geschrieben, ihr gratuliert und gewünscht, dass sie recht bald in Freiheit bei unserem lieben Bub sei. Meine Schwester Käthe schrieb mir, dass sie für Julerls Geburtstag ihr ein schönes Päckchen schickt. Sie werden ihr, so oft es ihnen möglich ist, eine Freude machen, denn alle haben Julerl sehr lieb und sie hat bestimmt jede kleine Freude in ihrem schweren Leben verdient. Ich wünsche und hoffe zu unserem Geburtstage, dass das Schicksal mir noch viele Jahre des gemeinsamen Lebens mit meiner lieben Julerl gibt. Nun zum Schluss, möchte ich noch ein paar Worte für unseren lieben guten Bub schreiben. Liebe Schwägerin, schreibst Du Julerl, dann grüße sie auch von mir, ebenso grüße meinen lieben Schwiegervater. Bleibt alle gesund, ich danke Dir für Deine lieben Worte und alles Gute....

Brief von Hugo Salzmann vom 25 Januar 1943 an die Schwägerin Ernestine und Sohn Hugo: (Teil 2)

Mein lieber herziger Bub!

Dein liebes Brieflein mit Deinem lieben Neujahrswunsche, dass Mutti und Vati recht bald bei Dir sein sollen, mit viel Freude erhalten. Auch Deine Zeichnung mit Herrn und Frau Keppellmeier war schön, ich musste darüber lachen. Lege auch in Muttis Brief immer eine Zeichnung. Sie wartet drauf und hat ihre Freude. Vergiss nicht, unserer lieben Mutti am 5. Februar zu gratulieren. Denke Dir, welche Freude Du für die liebe Mutti bist(?). Grüße sie auch von mir, hoffen wir alle, dass wir uns wieder sehen.

Das Christkind war sehr lieb zu Dir. Einen schönen Förstermantel, ein Hemd, Spielsachen, dazu noch Geld von Tanten und Großeltern. So haben sie alle lieb an Dich gedacht, das ist brav und lieb. Gelt, lieber Bub, es ist schön das Rodeln, aber auch schön, wenn man darauf(?) mit Lust und Liebe lernt, um in die Hauptschule zu kommen. Viel lernen muss man, um die Prüfung zu bestehen. Na, ich weiß, mein guter Bub, Du wirst es schon schaffen. Nur ruhig lernen, nicht aufgeregt oder ängstlich sein, dann geht’s schon. Mein Hugolein, Du hast auch ein kleines Kätzchen. Sei nur vorsichtig, wenn es größer wird, dass sie nicht beißt, sonst ist ein kleines Kätzelein sehr lieb. Bleibe auch Du lieb und brav und freue Dich bei Deiner lieben Tante. Mache auch ihr Freude, wenn Du kannst, bleibe gesund, werde groß und stark. 

Schicke unserer lieben Mutti viele Grüße und Bussi von mir. Tante Käthe schrieb mir auch, dass sie sich sehr gefreut hat, dass sie von Dir, Hugolein, nach Weihnachten gleich wieder Post bekam. Darum schreibe den Tanten hie und da auch mal eine Karte, gelt? Die freuen sich alle. Zum Schluss, liebes Hugolein, grüße Tante Ernestine nochmals, trinke ver- nünftig Lebertran für Deine Gesundheit. In Gedanken, recht fest drückt Dich Vati an sein Herz. Grüße Mutti. Tausend Bussi von 

Deinem lieben Vati Hugo.

Briefe im Original HIER lesen

 

Wenige Tage später hatte Hugo Salzmann Geburtstag. Am 4. Februar 1943 wurde er 40 Jahre alt. So weit wie möglich erhielt er von seinen lieben herzliche Glückwünsche zu diesem runden Geburtstag. 

 

Kaum hatten ihn die guten Wünsche zum 40. Geburtstag erreicht, erhielt Hugo Salzmann einen weiteren Brief. - Er wurde ihm am 8. Februar 1943 förmlich gegen Postzustellungsurkunde zugestellt. Der Absender war der „Volksgerichtshof in Berlin“. Der Inhalt war die Anklageschrift des Oberreichsanwalts Werner, die der Volksgerichtshof inzwischen zugelassen hatte. Das war wie ein Keulenhieb – die Anklage lautete auf Vorbereitung zum Hochverrat und andere Delikte. 

Hugo Salzmann über den Erhalt der Anklageschrift des Oberreichsanwalts wegen Hochverrats u.a. :

„(…) erhalte ich die Post: die Anklageschrift vom Volksgerichtshof – Sieben Anklagepunkte. Nr. 1: Anklage wegen Vorbereitung zum Hochverrat. Herstellung, Vertrieb illegaler Hetzschriften: „Rote Fahne“, „Die Tribüne“ usw.

Tüten kleben? Lass sie liegen. Wie kann ich mich verteidigen: der einzige Gedanke. Sitze auf dem Schemel, renne in der Zelle auf und ab. Müde – zur Matratze. Finde keinen Ausweg. Für einen Rechtsanwalt – kein Vertrauen - noch Geld. „Vorbereitung zum Hochverrat“ – es geht um den Kopf. Aus mit dem Leben. Habe keinem Schande bereitet. Keinen Menschen betrogen. Niemals einen Vorteil für mich noch für meine Familie gesucht oder genommen. Kriegsgegner – Gewerkschafter – Friedenskämpfer – und den Kampf gegen den Faschismus geführt. Sie können hängen, köpfen, morden – trotzdem: sie gehen kaputt, verlieren den Krieg. Wünsche mir trotz aussichtsloser Situation, ach, wenn ich das erleben könnte!“

 

Am Nachmittag desselben Tages besuchte der Gefängnispfarrer Fechler Hugo Salzmann. Er hatte unter den Wachtmeistern seine Vertrauensleute, die ihn sogleich über diese Post informiert hatten. Als Pfarrer Fechler die Anklageschrift las, legte er seine Stirn in Falten, ging nachdenklich einige Schritte auf und ab und sagte dann: „Ich kenne zwei Rechtsanwälte. Ich nehme die Anklage mit und höre, was sie zu der Anklage sagen. Morgen Vormittag bringe ich sie zurück. Momentan fehlen mir die Worte.“ 

Bei aller eigenen Not, die Hugo Salzmann hatte, war er stark beeindruckt von dem Mut dieses Mannes, der sich damit seinetwegen selbst in Gefahr brachte. Was wäre – so dachte Hugo Salzmann -, wenn die Gestapo eine unerwartete Kontrolle seiner Zelle machte und die Anklageschrift herausverlangte?! Das könnte jederzeit passieren. Trotzdem nahm Fechler die Anklageschrift an sich, um die Meinung der Anwälte zu hören, die sicherlich Näheres sagen können. Hugo Salzmann wollte ihn schützen und dachte: „Ein mutiger Mann, ein mutiger Einzelgänger, dieser Pfarrer. Ich darf ihn nicht in Gefahr bringen. Was, wenn doch eine Zellenkontrolle passiert und die Anklageschrift verlangt? Bereite mich besser vor. Was gebe ich für eine Antwort? Nach langem Nachdenken eine Möglichkeit: Hab’ sie zerrissen und in den Scheißkübel geworfen. Egal was kommt, es gibt im Ernstfall keinen anderen Ausweg.“

Briefumschlag des Volksgerichtshofs mit der Anklageschrift wegen Hochverrats u.a.
(Quelle: privat)

 Zum Glück gab es keine Zellenkontrolle. Am folgenden Tag war Fechler wieder da – sehr besorgt. „Steht nicht gut, Herr Salzmann“, sagte er und gab Hugo Salzmann die Anklageschrift zurück. „Ich weiß, Herr Pfarrer Fechler. Bin zufrieden, dieses gefährliche Papier wieder zu haben.“ Pfarrer Fechler machte sich keine Illusionen und auch Hugo Salzmann nicht: „Diese Richter in Berlin sind Fanatiker, gefährliche Leute, die machen keine Gefängnisurteile.“ Nachdenklich ließ er Salzmann in seiner Zelle zurück.

Die Familie, d.h. Hugo Salzmanns Schwester Tilli, bemühte sich in diesen Tagen auch noch um eine Erlaubnis, ihn im Koblenzer Gefängnis zu besuchen. Das war kaum möglich und machte schon größere Anstrengungen nötig. Schwester Tilli wandte sich dazu an den Kreisleiter Schmidt, der schon vor 1933 Funktionär der Nazis und ein entschiedener Gegner Salzmanns war. Das war ihr sicherlich schwer gefallen, aber sie wollte den Bruder noch einmal sehen und ihm Mut zusprechen. Schmidt machte sich daraufhin bei der Gestapo kundig, wie es um eine solche Erlaubnis stehe, und teilte der Schwester Tilli dann die Absage mit: Es läge so viel Belastendes gegen ihren Bruder Hugo vor, dass sie keine Erlaubnis erhalten könne. – Zum Glück erfuhr seinerzeit Hugo Salzmann davon nichts, denn es hätte seine Sorge um sein weiteres Schicksal nur noch vergrößert.

Aber Mitte Februar 1943 war es dann soweit: Eines Abends schreckte er auf, als sich nach dem Umschluss der Schlüssel noch einmal im Schloss seiner Zellentür drehte. „Alles ist möglich bei dieser SS und Gestapo“, dachte er. Dann war er sprachlos, als er im Halbdunkel der Zelle Pfarrer Paul Fechler sah. Was wollte er noch so spät, das Blut stockte in seinen Adern. Traurige Augen schauten in seine. Fechler biss sich auf die Unterlippe, ergriff seine Hand und sagte: „Herr Salzmann“, er stockte, „erschrecken Sie nicht, wenn Sie morgen um 4 Uhr geholt werden. Deswegen bin ich noch einmal gekommen. Sie kommen morgen auf Transport zum Volksgerichtshof nach Berlin. Es kann ein Todesurteil geben – wenn Sie Glück haben Zuchthaus. Die Höchststrafe ist 15 Jahre Zuchthaus. Auf alles müssen Sie gefasst sein. Behalten Sie Ihren Mut. Mir tut es leid, dass ich nicht mehr für Sie tun konnte.“ Noch ein Händedruck, dann ging Pfarrer Fechler und Hugo Salzmann war allein.

In seiner Einsamkeit überkamen Hugo Salzmann wieder die Gedanken über Leben und Tod, seine Familie und was ihn erwarten würde.

Hugo Salzmanns Gedanken am Vorabend des Transports zum Volksgerichtshof in Berlin:

„Nun ist es soweit. Wie oft kann der Mensch sterben, den Weg durchdenken, Tod durch Scharfrichters Beil?  15 Jahre Zuchthaus? Das bedeutet ebenfalls „Tod“, nur es  dauert länger. KZ. Kein Entrinnen. Vorbereitung zum Hochverrat? Bin jetzt ein lebender Toter. Morgen früh 4 Uhr. Lautlos werden sie mich holen. Alle Freunde und so viele tapfere Genossen – Widerstandskämpfer und Genossinnen. Die Frau im KZ, wo ist der Junge, die Geschwister, Verwandte, alles taucht auf. Schlafen unmöglich. Diese Nacht mit offenen Augen, eine Ewigkeit. Keine Turmuhr schlägt die Stunde, der Gefangene hat keine Uhr. Warten, warten – gespannt das Gehör. Wann kommen die schleichenden Schritte, der vorsichtig ins Zellenschloss einführende Schlüssel, Öffnen der Tür: „Aufstehen, Fertigmachen zum Transport!“ Nun bin ich bereit. Werde nicht erschrecken. Bin vorbereitet.“ 

 

Vom Gefängnis in Koblenz kam Hugo Salzmann „auf Transport“ zum Volksgerichtshof nach Berlin
(Quelle: Förderverein Mahnmal Koblenz)

 

Vor dem Volksgerichtshof.

 

Dann ging es zum Koblenzer Hauptbahnhof, von dort mit dem Gefangenenwaggon nach Berlin – mit Zwischenhalten in den Gefängnissen in Köln (Köln-Klingelpütz), Hannover, Halle/Saale. Ende Februar 1943 war Hugo Salzmann im Untersuchungsgefängnis Moabit in Berlin. 

Dort erreichte ihn noch kurz vor seiner Hauptverhandlung ein Brief seiner Frau Julianna, die ihm zum 40. Geburtstag gratulierte. Am 1. Februar 1943 hatte sie ihm geschrieben. Durch die Zensur im KZ und durch den Oberreichsanwalt  sowie durch die Verlegung nach Berlin wurde er ihm erst am 26. Februar in Berlin ausgehändigt. Die guten Wünsche seiner Frau Julianna zu seinem Geburtstag konnte Hugo Salzmann in dieser Situation besonders gut gebrauchen.

Brief von Ehefrau Julianna an Hugo Salzmann zum 40. Geburtstag,
erhalten in Berlin am 26. Februar 1943:

„Mein lieber, guter Hugo! Deinen lieben Brief von Dezember erhalten, besten Dank. Hugo, in vier Tagen beginnst Du Dein 40. Lebensjahr, gesund sollst Du bleiben und stark, für unseren guten Bub, damit er noch viel von seinem Vater hat. Alles Gute wünscht Dir Deine Julerl und recht bald ein gesundes Wiedersehen. Du schriebst mir, Kätha wollte mir ein Päckchen schicken, bekommen habe ich bis heute keines. Kätha soll mir schreiben, ob sie eins geschickt hat, von Tini bekomme ich öfter eines, bin sehr froh! Sie könnten mir ja alle ab und zu etwas schicken, auch Deine Schwester Anni. Lieber Hugo, habe nie Sorge um mich, mir geht es schon recht. Unser Hugolein hat mir einen lieben Brief geschrieben, ich habe viel Freude damit. Ich hoffe, dass Du noch gesund bist, mir geht es jetzt gut, hatte es auch schon sehr mit dem Magen und kann mit Dir fühlen, was Du durchgemacht hast. Grüße bitte Deine lieben Geschwister und Verwandten von mir und wenn Du Tini schreibst, schreibe, dass ich alle Päckchen bekommen hab. Mit festem Händedruck, Kopf hoch, lieber Hugo, küsst Dich innigst 

Deine Julerl.“

 

Am unteren Rand dieses Briefes findet sich noch eine Ergänzung von Hugo Salzmann, ersichtlich geschrieben am 26. Februar 1943: 

„In sechs Tagen ist mein Termin, auf Wiedersehen, bleibe gesund und stark. Küsst Dich innigst Dein Hugo.“ sowie am Rand: „Sei innigst gegrüßt, Dank für Deine große Liebe, gute Julerl, grüß Hugolein“. Es ist offenbar eine Nachricht, die Hugo Salzmann in Gedanken an seine Frau für sich geschrieben hat.

Am Morgen des 3. März 1943 öffnete der Wachtmeister die Zellentür mit den Worten: „Besuch, kommen Sie mit!“ Hugo Salzmann fuhr zusammen. Besuch? Wer kann von meinen Geschwistern, Verwandten so dumm sein, von Kreuznach nach Berlin, nach Moabit, zu kommen – die Gestapo muss doch den „Besuch“ genehmigen. Der begibt sich doch in die größte Gefahr. Wer hat denn so einen Mut?

Wie er bald feststellte, war es kein Angehöriger, sondern ein – wie Hugo Salzmann es nannte – Zivilist, den er im Besucherzimmer antraf. Man kannte sich nicht und schaute sich an. „Tag, Herr Salzmann“, sagte der Zivilist und reichte ihm die Hand. „Kommen Sie, setzen Sie sich. Ich bin Ihr Offizialverteidiger. Rechtsanwalt Feldmann.“ Hugo Salzmann war schockiert. Das war der Rechtsanwalt, den der Volksgerichtshof ihm zur Verteidigung in der Hauptverhandlung bestellt hatte. Wenn man ihm schon vom Gericht einen Verteidiger bestellte, dann musste gegen ihn schon ein sehr schwerer Vorwurf erhoben worden sein. Unterdessen ging der Rechtsanwalt seinem Geschäft nach und überflog einige Blätter in einem vor ihm liegenden Aktenstück. Dann schloss er die Akten und wandte sich Hugo Salzmann zu. „Ich kenne Ihre Akten, bin für Ihre Verteidigung bestimmt.“ Die Stimme wird leise. „Wenn Sie mir sagen, was Sie belastet, bin ich verpflichtet, es der Gestapo mitzuteilen. Morgen um 9 Uhr ist Ihr Termin. Ich bin pünktlich anwesend. Bleiben Sie stark. Weinen Sie nicht – sonst verlieren Sie den Kopf!“ Dann stand er auf:  „Also bis Morgen“ und ging. Diese Unterredung dauerte noch keine fünf Minuten. Keiner der beiden stellte eine Frage. Nur Hugo Salzmann fragte sich für sich, ob sein „Fall“ so klar und eindeutig wäre, dass es für den Verteidiger nichts zu fragen gab.

Und wieder stiegen in Hugo Salzmann die Bilder und Erinnerungen hoch – der Abschied im Konzentrationslager Le Vernet von seinen Genossen, vor allem von Siegfried Rädel und Franz Dahlem.

Erinnerung von Hugo Salzmann an seinen Schwur beim Abschied in Le Vernet:   

„Ich denke an den unvergesslichen Siegfried Rädel beim Abschied in Vernet. Dieses menschlich große Empfinden, bis zu seinen einfachsten treuen Mitkämpfern. Er umarmte mich, drückte mich an sein Herz, küsste mich auf beide Wangen. Tief und ernst schaute er mir in die Augen: „Hugo, Du weißt, welchen Weg Du gehen musst. Ich weiß, Du bist stand- haft. Ein schwerer Weg, Hugo, lieber Hugo.“ Dieser Händedruck, diese Umarmung, seine vertrauenden Augen, der Mitkämpfer aus den 1920er Jahren. Die Augen trübten sich, er dreht sich um. Da – steht Franz Dahlem, ruhig sieht er diesem Abschied zu. Er ist abgehärteter nach außen, keine Gefühlsausbrüche. „Du weißt, es ist unser Weg, der Kampf gegen den Faschismus, gegen Hitler und seine Generäle. Bei allen Opfern, Hitler verliert diesen Raubkrieg. Genosse, Du weißt es. Habe Mut!“ Ein Händedruck, ein Schwur ohne Worte.“

 

Im Morgengrauen des 4. März 1943 begann der Tag der Entscheidung wie jeder andere Tag im Gefängnis auch. Es wurde aufgeschlossen und es gab eine schwarze heiße Brühe, eine Scheibe Brot. Diesmal blieben Hugo Salzmann die Bissen aber fast im Halse stecken. Dann begann das Warten. Er bereit für das, was kommen sollte – wollte sich nicht überrumpeln lassen. Dann kam der Wachtmeister und übergab ihn am Gefängnistor zwei Zivilisten. Mit diesen beiden Gestapobeamten und dem Gefängniswagen ging es zum Volksgerichtshof. Dann saß Hugo Salzmann in Sitzungssaal des Volksgerichtshofs und wartete auf seine Hauptverhandlung vor dem 5. Senat – allein und hinter einer Barriere. Wieder gingen ihm die Gedanken durch den Kopf.

Hugo Salzmann in Erwartung des Volksgerichtshofs:

‚Einige Minuten sitze ich allein im Gerichtssaal. Diese Stille – ‚fasse Dich’, sage ich mir. ‚Ruhe bewahren, Nerven behalten... nicht weinen’, sagt der Offizialverteidiger, ‚sonst….verlieren Sie den Kopf.’- ‚Wie sagte er zu mir?’ – ‚Ich verteidige Sie.’ Sonderbar – eine innere Ruhe kam über mich, wie selbstverständlich. ‚Ruhe bewahren – es geht um deinen Kopf.’ Schnell überlegen. Auf Fragen schnell antworten. ‚Was werden die Richter für Beweise haben?’

 

Alsbald kam Bewegung in den Saal. Zunächst betraten im Gleichschritt zwei Zivilpersonen den Raum und setzten sich in die vorderste, für die NSDAP reservierte Bankreihe. Sie sollten die „Öffentlichkeit“ dieser Hauptverhandlung darstellen. Dann eilte ein weiterer Zivilist herbei und belegte mit seiner Aktentasche einen kleinen Tisch, der unterhalb von Hugo Salzmanns Platz stand. Er zog sich die schwarze Robe über, blickte zu Salzmann hinauf und neigte ohne ein Wort leicht den Kopf. Das war sein Offizialverteidiger Rechtsanwalt Feldmann. Dann Türgeräusch. Im Türrahmen stand ein hochgewachsener Mann in roter Robe, mit schwarz umränderten Armumschlägen und ebensolcher eckiger Kopfbedeckung. Das war als Vertreter des Oberreichsanwalts Staatsanwalt Dr. Bruchhaus. Er eilte zum langen Tisch gegenüber von Hugo Salzmann und legte sein Aktenstück vor sich hin. Ein weiterer Zivilist nahm neben ihm Platz. In einem Aktenumschlag hatte er einige Blätter dabei, die er überflog.

Dann gab es Geräusche an der Stirnwand des Saales. Davor war eine lange Tischreihe aufgebaut, hinter dieser hohe Stühle, ein ganz hoher in der Mitte. Das war die Richterbank. Sie war mit einer roten Tischdecke bedeckt, sie wirkte wie eine Blutbahn. In der Mitte der Stirnwand öffnete sich eine hohe Tür.

Der Staatsanwalt, der Zivilist neben ihm, die zwei Zuschauer und der Offizialverteidiger schnellten wie Pfeile in die Höhe. Von der Bewegung mitgerissen, stand auch Hugo Salzmann ruckartig auf und starrte wie alle anderen auf die sich öffnende Tür.

Als erster trat mit wallender roter Robe heraus ein Mann mit hagerem Gesicht und scharfer Nase. Das war der Vorsitzende des Senats, nicht Freisler, der berüchtigte Präsident des Volksgerichtshofs, sondern – wie Hugo Salzmann erst später erfuhr – der Senatspräsident Dr. Albrecht. Neben dem höchsten Stuhl der Stuhlreihe blieb er stehen und sandte einen abschätzigen Blick auf Hugo Salzmann und seinen Offizialverteidiger Feldmann. Hinter dem Vorsitzenden traten noch vier Richter ein: ein Berufsrichter in roter Robe wie der Vorsitzende, dann ein SA-Brigadeführer, ein Generalarbeitsführer und ein Kreisleiter. Hugo Salzmann war von dem Anblick dieses Gerichts so konsterniert, dass er die einzelnen gar nicht richtig wahrnahm. Sie waren ihm als solche auch unbekannt. Nicht einmal ihre Uniformen kannte er, war er doch zu Beginn des Naziregimes ins Ausland geflohen und hatte er den Pomp, den die Nazis mit ihren Unformen und Titeln trieben, gar nicht mitbekommen. Dann nahm das Gericht Platz und für einen Moment herrschte eisige Stille.

Der Senatspräsident eröffnete die Hauptverhandlung, schlug seine Akten auf und fragte Hugo Salzmann, ob er die Anklageschrift erhalten habe und ob er sie auch kenne. Als dieser beides bejahte, eilte auf einen Wink des Vorsitzenden hin ein Zivilist herbei, nahm Salzmann die Anklageschrift ab, zerriss sie in kleine Stücke und warf die Fetzen in einen Papierkorb. Hugo Salzmann verstand das zunächst nicht. Später wurde ihm klar, dass damit Spuren verwischt werden sollten und er auch in seiner Verteidigung behindert werden sollte – denn wenn man nicht einmal nachlesen konnte, was die Anklage einem vorwarf…. 

Die Verhandlung begann wie üblich mit der Vernehmung des Angeklagten zur Person. Als er aufgefordert wurde, seinen Lebenslauf zu schildern, überkam Hugo Salzmann eine innere Ruhe, und er begann zu erzählen: von seiner Jugend, seiner Familie, vom Ersten Weltkrieg, von der Not der Familie, der Vater an der Front, kranke Mutter, fünf hungrige Kinder. Weiter schilderte er seine Lehre, das Kriegsende, Vater arbeitslos, Tod der unvergesslichen Mutter mit 39 Jahren. Und weiter: den Weg zur Gewerkschaft, zur kommunistischen Jugend, der antimilitaristische Kampf gegen die französische Besatzung, gegen die separatistische Bewegung, der Ruhrkampf. Und er bekannte: Ja, dafür gab er seine Jugend, jede freie Zeit, um den Menschen seiner Heimat in jeder Not zu helfen. „Schließlich wandte er sich an den Vorsitzenden unmittelbar:

Hugo Salzmanns Bekenntnis vor dem Volksgerichtshof zu seinem Leben und seinen Idealen:

 „Herr Präsident, es ist mein Ideal, meine Überzeugung, dafür zu kämpfen, dass nicht noch einmal diese Not und das Elend, die ich erlebte, ich selbst oder die junge Generation erleben sollten. Das ist mein Lebensweg, dafür gab ich meine Jugend, uneigennützig, so wurde ich Stadtrat meiner Partei. 1933 musste ich meine Heimat verlassen. Herr Präsident, das ist mein Leben. – Ich bin nicht schuldig.“


Nach den letzten Worten „Ich bin nicht schuldig“ herrschte an der Richterbank eisige Stille. Der Vorsitzende blätterte in seinen Akten, entnahm ihnen kleine Schriftstücke und reichte sie allen Richtern. Wortlos schauten sie sich diese an und tauschten sie gegenseitig aus. Hugo Salzmanns Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Er spürte: Diese Unterlagen belasten ihn schwer. Was mögen sie da haben? Von wem stammen sie? Gibt es Verräter? Einen Genossen, der schwach wurde? Wer tritt als Zeuge gegen ihn auf? Die Mienen der Richter waren verschlossen – sie hielten eine tödliche Gefahr für ihn in ihren Händen. 

Inzwischen hatte der Vorsitzende alle Unterlagen wieder in seiner Hand, blickte ihn kalt an und hielt sie hoch: „Angeklagter, Sie kennen diese illegalen Schriften, ‚Die Rote Fahne’, ‚Die Tribüne’? Sie haben sie verbreitet, nach dem Reich verschickt. Sie hetzten gegen unseren Führer Adolf Hitler, gegen den Nationalsozialismus, schmähten den Führer als Mörder, riefen zum Widerstand, zum Sturz des faschistischen Systems auf. – Das ist Vorbereitung zum Hochverrat! Das sind die Beweise! - Angeklagter, bekennen Sie sich schuldig?“ 

Hugo Salzmann zwang sich zur Ruhe, jetzt ging es um seinen Kopf. „Herr Präsident, ich habe keine illegalen Schriften nach dem Reich versandt!“ – „Angeklagter, hier liegen uns die illegalen Hetzschriften vor, die Sie nach Bad Kreuznach an den SA-Mann H. U. sowie auch an den SA-Sturmführer Christian Kappel gesandt haben“ Geben Sie das zu!“ – „Herr Präsident, das habe ich nicht getan!“ – „Angeklagter, es konnte keiner die genaue Adresse der beiden kennen außer Ihnen. Sie waren der einzige von Kreuznach, der als Emigrant in Paris lebte und die Emigrantenliteratur versandte.“ Kalt, kalt, drohend seine Worte, stechend waren die Augen auf Hugo Salzmann gerichtet, als wollte er ihn hypnotisieren, die Blicke aller Richter durchbohrten ihn.

Jetzt kannte er die Denunzianten. H.U. der Verräter in der Heimat und der berüchtigte Bandenchef der SA Sturmführer Christian Kappel aus Roxheim bei Bad Kreuznach. Die beiden hatten die „Rote Fahne“ und die „Tribüne“ 1936 erhalten und zur Gestapo getragen. Beide gaben der Gestapo den Hinweis, dass der Absender von Paris nur Hugo Salzmann sein könne. 

Dieses Wissen machte Hugo Salzmann noch furchtloser. Unmittelbar wandte er sich an den Vorsitzenden: „Herr Präsident, wenn ich schwören dürfte, ich habe diese Schriften nicht versandt.“ Eine Stecknadel hätte man fallen hören können, eine solche Stille herrschte im Saal. Der Vorsitzende flüsterte mit dem anderen Berufsrichter, griff zu den Akten, stand auf und sagte: „Die Verhandlung wird unterbrochen.“ Alle Richter, verschwanden durch die Tür an der Rückseite, von wo sie hergekommen waren. 

Der Staatsanwalt tuschelte mit dem Zivilisten neben ihm. Sie suchten etwas in den Akten und meinten dabei die Richter. Ganz anders Salzmanns Offizialverteidiger. Er saß weiter in stoischer Ruhe auf seinem Stuhl und blickte nicht einmal zu ihm hinauf, kein Wort der Beruhigung, Ermunterung, nichts, gar nichts. Die Zeit verging, eine halbe Stunde, eine ganze Stunde, eine Ewigkeit.

Schließlich ging die Tür wieder auf, die Richter traten ein, nahmen Platz und der Vorsitzende erklärte, die Verhandlung werde fortgesetzt. Die Sitzung erhielt eine ganz andere Wendung. Erst fragte der Vorsitzende Hugo Salzmann, ob es zutreffe – wie es in den Akten stehe -, dass er es abgelehnt habe, sich freiwillig zur Fremdenlegion zu melden. Nachdem er dies bejaht hatte, wandte er sich zu dem neben dem Staatsanwalt sitzenden Zivilisten: „Herr Sachverständiger, bitte geben Sie Ihre Beurteilung zu den Schriftproben ab. Sie haben ja die Anschriften auf den nach Bad Kreuznach verschickten illegalen Hetzblättern mit den Schriftproben verglichen, die von dem Angeklagten in der Untersuchungshaft angefertigt wurden.“ 

Bei diesen Worten durchzuckte es Hugo Salzmann. Und auf einmal wurde ihm bewusst, wie wichtig, ja überlebenswichtig alles war, was er früher und zuletzt im Gefängnis in Koblenz geschrieben hatte.

Hugo Salzmanns Bericht über das Gutachten des Schriftsachverständigen:  

„‚Werde ich zum Tode verurteilt? Haben am Ende die Ankläger noch Belastungsunterlagen von Paris von Hausdurchsuchungen in Wohnungen, Hotelzimmern von Emigranten, bei französischen Freunden, durch französische Polizeiinspektoren und der Gestapo? Geschriebenen Erinnerungen aus den zwanziger Jahren bis 1933 über den Widerstandskampf der Partei und Jugendgenossen in Bad Kreuznach gegen den Faschismus?’ Der sachverständige Graphologe erhebt sich, in der linken Hand einige Papierstücke, rückt seine Brille hoch: „Herr Präsident, hohes Gericht“, schaut auf seine Papiere und spricht: „Nach genauen Untersuchungen der Schriftproben des Angeklagten und der Schrift der Adressen von den Hetzpackungen habe ich festgestellt; der Buchstabe „B“ ist das typische „B“ des Angeklagten. Der Buchstabe „K“ unmöglich, ebenso das „E“ und das „N“. Das „Z“ ist den Schriftzügen des Angeklagten ähnlich.“ Buchstabe um Buchstabe beurteilte er auf diese Art. „Herr Präsident“, Totenstille, „ich kann nicht mit Sicherheit sagen, dass die Anschrift der Hetzschriften vom Angeklagten stammen.“ 


Das Gutachten des Graphologen hatte erkennbar die Richter verunsichert. Auch der Offizialverteidiger Feldmann schwieg, selbst jetzt wagte er nicht, das Wort zu ergreifen und Entlastendes vorzubringen. Der Staatsanwalt hatte sich bald gefasst. Er plädierte auf zehn Jahre Zuchthaus.

Hugo Salzmann zum Strafantrag des Staatsanwalts:

„Ich höre nur noch ‚zehn Jahre Zuchthaus’. Nicht eine Sekunde Erschrecken war an mir zu erkennen. Zehn Jahre Zuchthaus? Eine ungeheure Belastung der Nerven, der Selbstbeherrschung, der Gedanke Hinrichtung. Ja, 15 Jahre Zuchthaus, die Spannung der Nerven ist gewichen. Das Gehirn arbeitet wie eine Maschine, alles rollt in Sekunden. Im Geiste sehe ich den Gefängnispfarrer Paul Fechler, der mir sagte: „Herr Salzmann, rechnen Sie mit der Todesstrafe, wenn es gut geht mit 15 Jahren Zuchthaus. Bleiben Sie, wie Sie sind.“


Hugo Salzmann atmete durch: ‚Oh, zehn Jahre. Zehn Jahre Zuchthaus? Zu Kriminellen! Als politisch Verurteilter? Mit welchen Menschen werde ich gleichgestellt? Ich bin doch kein Krimineller! Kein Mord, kein Raub, kein Betrug, nichts Schlechtes, Verbrecherisches habe ich getan. Zuchthaus – ach Zuchthaus. Doch ein Vorteil. Meine Freunde, Mitkämpfer gegen Hitler, seinen Faschismus, die sind in direkten Vernichtungslagern, den KZs. Hab ich noch einen Vorteil? Bekomme nur Zuchthaus? – Immerhin: Leben werde ich.’ Die Stimme des Präsidenten riss ihn aus meinen Gedanken: „Die Verhandlung wird unterbrochen, das Gericht zieht sich zur Beratung zurück.“ Rote Roben, Uniformen, Zivilisten – der Volksgerichtshof rauscht zur Hintertür in sein Beratungszimmer.

Die Zeit verging. Die Gedanken und die Stille im Verhandlungssaal wurden vom Geräusch an der Rückwand unterbrochen. Die Flügeltüren öffneten sich weit. Der Staatsanwalt erhob sich sofort, alle folgten, der Graphologe, die beiden Parteigenossen (die „Öffentlichkeit“), Hugo Salzmanns Offizialverteidiger und auch er, der Angeklagte. Die Spannung in ihm wuchs immer mehr. Er hatte nichts mehr zu verlieren – als die Ehre eines Widerstandskämpfers.
 
Der Vorsitzende verkündete das Urteil: 

Das Urteil des Volksgerichtshofs gegen Hugo Salzmann:

„Im Namen des Deutschen Volkes wird die von Herrn Staatsanwalt beantragte zehnjährige Zuchthausstrafe auf acht Jahre Zuchthaus wegen Vorbereitung zum Hochverrat herabgesetzt – da der Angeklagte sich geweigert hatte, sich in die französische Fremdenlegion werben zu lassen. Der Angeklagte hat damit bewiesen, dass er noch einen Funken Nationalgefühl besitzt. - Die Verhandlung ist damit geschlossen.“

 

Der Sitzungssaal leerte sich sehr schnell. Als letzter blieb noch der Gerichtsdiener da, der zuvor die Anklageschrift zerrissen hatte. Der schaute Hugo Salzmann an, dann um sich herum und wandte sich wieder zu ihm. Mit der flachen Hand strich er über seinen Hals und flüsterte ihm zu: „Hast Glück gehabt. Andere haben den Kopf verloren. Der Krieg dauert keine zwei Jahre mehr.“ Dann drehte er sich um – und war auch fort. 

Und in der Tat hatte Hugo Salzmann „Glück“ gehabt. . Am selben Tag hatte der Volksgerichtshof außer gegen ihn noch gegen  11 Angeklagte verhandelt  – also gegen insgesamt 12 Personen, acht Männer und vier Frauen. Es ergingen acht Todesurteile. Für drei Polen gab es einen neuen Termin. Damit war Hugo Salzmann der einzige, der eine nur zeitige Strafe erhielt.  

Hugo schildert seine Verhandlung vor dem Volksgerichtshof in Berlin

 

Die schriftlichen Urteilsgründe des Volksgerichtshofs hat Hugo Salzmann nie zu Gesicht bekommen, das war – wenn man die Logik des Unrechtsstaats bedenkt – auch konsequent, denn die Anklageschrift hatte man ja vor seinen Augen in der Hauptverhandlung zerrissen. Was sollten da noch die schriftlichen Urteilsgründe?

In den erhalten gebliebenen Akten des Volksgerichtshofs ist das schriftliche Urteil aber überliefert. Bei seiner Lektüre gewinnt man ebenfalls den Eindruck, dass Hugo Salzmann Glück gehabt hat – soweit man bei einer verhängten Zuchthausstrafe von acht Jahren von „Glück“ sprechen kann. Offensichtlich war das Gericht davon ausgegangen, dass es Salzmann mit dem Schriftsachverständigen als Absender der Zeitungen an Adressaten in Bad Kreuznach überführen konnte. Als dies der Gutachter nicht feststellen konnte und das Gericht ihm in der Bewertung folgte, musste ein wesentlicher und ganz konkreter Vorwurf fallen gelassen werden. Es blieb der mehr abstrakte Vorwurf, dass Salzmann sich vom „sicheren Hort des Auslands aus“ an der „gefährlichen Emigrantenhetze gegen Deutschland“ beteiligt hatte. Ins Gewicht fiel dann noch die lange Zeit, in der er an der Vervielfältigung und dem Vertrieb der Zeitungen mitgewirkt hatte.

Ansonsten fand das Gericht auch angesichts seiner Einlassung viel Entlastendes. So hatte er Deutschland nicht verlassen, um vom Ausland aus gegen Deutschland „zu hetzen“, war mit seiner kleinen Familie in Paris in einer prekären wirtschaftlichen Lage, hatte sich – so das Urteil – aufgrund von Versprechungen der kommunistischen Leitung für die Arbeit gewinnen lassen und sich dann nicht mehr zu einer entscheidenden Abkehr durchringen können. Maßgeblich fiel ins Gewicht, dass er in Le Vernet „allen an ihn herantretenden Versuchungen, sich zum Eintritt in das französische Heer oder in den französischen Arbeitsdienst zu verpflichten, widerstanden und infolge seiner Weigerung Unannehmlichkeiten in Kauf genommen hat. Für ihn sprachen auch sein Geständnis und seine Reue, die der Senat zu erkennen meinte. All dies erweckte beim Gericht den Eindruck, dass Salzmann „für die deutsche Volksgemeinschaft nicht verloren (sei)“.

Damit war ein Todesurteil vom Tisch und der Weg war frei für eine zeitige Freiheitsstrafe. Diese fiel bei einem Strafrahmen von bis zu 15 Jahren mit acht Jahren Zuchthaus „vergleichsweise moderat“ aus. Außerdem verfügte das Gericht, dass Hugo Salzmann die Polizei- und Untersuchungshaft in Höhe von einem Jahr und vier Monaten auf die erkannte Freiheitsstrafe als verbüßt angerechnet wurde. Damit hatte er noch eine Strafe von sechs Jahren und acht Monaten zu verbüßen.

 

Im Zuchthaus Butzbach.

 

Alsbald nach der Hauptverhandlung ging Hugo Salzmann wieder „auf Transport“: erst zu einem Berliner Bahnhof, dann in den Gefangenenwagen eines Zuges und dann ging es ab. Er war am Ende seiner Kräfte, ihm war gleichgültig, wohin man ihn verfrachtete. Ein Gedanke beschäftigte ihn unentwegt:

Hugo Salzmann zu seiner Verurteilung zu acht Jahren Zuchthaus: 

„8 Jahre Zuchthaus – das ist Wahnsinn – das packe ich nie!“


Einige Zeit später brachte man ihn ins Zuchthaus Butzbach. Dort traf er am 19. März 1943 gegen 13 Uhr ein. Bei seiner Einlieferung setzte die Verwaltung des Zuchthauses gleich sein Entlassungsdatum fest: Das war – acht Jahre von seiner Verschleppung aus dem Konzentrationslager Le Vernet in das Gefängnis von Castres am 4. Oktober 1941 aus gerechnet – am 3. November 1949, 18.00 Uhr. -  Es musste ja alles seine – grausame – Ordnung haben. 

Immerhin wurde Hugo Salzmann bei seiner Einlieferung ins Zuchthaus Butzbach seine Kleidung los, die er ununterbrochen seit Le Vernet getragen hatte. – Allerdings musste er diese Lumpen eintauschen gegen Sträflingskleidung. Sicherlich ein für ihn problematischer Tausch. Nach langer Zeit sah er in der Aufwahrungskammer des Zuchthauses seine „Effekten“ wieder. Das „Wiedersehen“ schilderte er später so: 

Hugo Salzmann sieht nach langer Zeit seine Habseligkeiten wieder:

„ Ach, das ist er ja, das ist ja mein Koffer. Das faustgroße Loch am Deckel, von Ratten und Mäusen im KZ Vernet genagt so wie sie auch den Rest der Kleidung der Internierten ruinierten. Seit der Auslieferung von Moulins hatte ich ja keinen Koffer mehr gesehen. Der Hauptwachtmeister öffnet den Koffer und sagt mir in einem milden Ton, wie mir schien, denn ich war nur noch Kommandos gewöhnt: „Haben Sie noch etwas Wertvolles im Koffer? Sie können es noch an ihre Familienangehörigen schicken!“

Ein paar geschabte, weiße Gegenstände, geformt wie Tulpen, Ringe, Anhänger die ich aus Suppenknochen mühselig mit nur einem Taschenmesser gearbeitet hatte, klapperten gegen ein kleines Aluminiumtöpfchen, als der Hauptwachtmeister den Koffer hinlegte. Dann sah ich meine Jacke und ein paar Strümpfe - wie schonte ich sie - wie alles, was mir gehörte und für mich ein Vermögen war. ‚Ein armseliges Etwas?’ – ‚Nein, schrie es in mir, diese Sachen sind für mich von unschätzbarem Wert, Erinnerungen an meine Frau und mein Kind.’ Wieder steigt die Hoffnung in mir. Wenn wir es packen, den Krieg zu beenden, Hitler zu stürzen. Oh, welche Erinnerungen - diese Sachen müssen in die Heimat. Es sind zwar stumme, aber doch Zeugen der Elendsjahre: Hunger, Not, Tränen, Trauer, Lachen, Mutlosigkeit und wieder Hoffnung, Lebensmut mit der Kraft zum Widerstand. Ja, diese Gegenstände, die armseligen Sachen sind so kostbar! Ich schicke sie an meine Schwester in die Heimat. Nur die Jacke und die Strümpfe bleiben im Koffer.“ Der Koffer wird wieder zugeschlossen und wortkarg führt mich der Hauptwachtmeister wieder in meine Zelle.“ 


Die Zeit wurde Hugo Salzmann schwer. Zum ersten Mal in der langen Zeit seiner Haft war er mit Kriminellen eng zusammen. Das deprimierte. Wenigstens hatte er Glück mit seinen Zellengenossen. Es waren im wahrsten Sinne des Wortes „Genossen“: der aus Friedrichsthal im Saargebiet stammende Otto Renner, der aus dem Konzentrationslager Esterwegen nach Butzbach verlegt worden war und der über 60 Jahre alte  Drucker und Grafiker Kaspar Göb aus Offenbach/Main, der wegen der Fälschung von Lebensmittelkarten zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Mit diesen beiden war Hugo Salzmann nicht nur in der Zelle zusammen, sondern auch bei der Arbeit. Sie gehörten zur selben Schicht. Er arbeitete mit ihnen außerhalb des Gefängnisses in schwer bewachten Barackenwerkstätten. An einer Drehbank stellte er Zünder für schwere Flugzeug-Maschinengewehre her.

Zum Glück war auch der Briefkontakt zur Familie geblieben. Durch die nur sporadische Schreiberlaubnis und die recht vielen Angehörigen dauerte es oft längere Zeit, bis Hugo Salzmann Antwort auf seine Briefe erhielt. Schon bei seinen vier Geschwistern war es schwierig, da jede der drei Schwestern in einer anderen Stadt wohnte und sein Bruder Karl als Soldat an der Ostfront war. Schrieb er ihnen, musste er sieben Wochen auf Antwort warten. Deshalb schrieb er an eine Schwester und sie benachrichtigten sich dann gegenseitig. Ähnlich war es mit der Post an seine Schwägerin Ernestine und seinen Sohn Hugo. Eine Antwort von Julianna dauerte noch länger, da sie ebenfalls – und eine noch strengere – Schreibbeschränkung hatte. Ein Beispiel dafür ist der Brief Hugo Salzmanns vom 24. Oktober 1943 an seine Schwägerin Ernestine und seinen Sohn Hugo.

Brief von Hugo Salzmann vom 24. Oktober 1943 am seine Schwägerin Ernestine und seinen Sohn Hugo (Teil 1):

„Liebe Schwägerin Ernestine und mein lieber guter Bub Klein Hugo!

Nun, zuerst wünsche ich Euch einen ‚schönen guten Tag’ und hoffe, dass Ihr beide gesund seid, ebenso dein lieber Mann. Mir selbst war es einige Tage nicht wohl. Jetzt ist’s wieder gut. Von meinen Geschwistern habe ich schon 6 Wo- chen lang keine Post erhalten. Sie verstehen sich noch nicht, im Schreiben einzuteilen. Beunruhigen tut mich das Schicksal meines Bruders, der im Osten schwer verwundet wurde, seit Wochen habe ich über seinen Gesundheits- zustand nichts mehr gehört. Wenn Du an meine Schwester Tilla schreibst, liebe Schwägerin Ernestine, erwähne, dass ich auch geschrieben habe und gespannt auf Nachricht von unserem Bruder Karl wäre. Meiner treuen Julerl hatte ich geschrieben, hoffe und wünsche, dass sie gesund ist und auch weiterhin bleibt. Ich werde mich freuen, von ihr wieder einen Gruß zu erhalten. Wenn Du und Klein Hugo schreibt, grüßt sie recht, recht lieb von mir. 

Meinen nächsten Schreibtag habe ich am 5. Dezember, da werde ich an meine Geschwister in Kreuznach schreiben. Allen Lieben, die an uns Grüße senden und an Klein Hugo denken, innigsten Dank, wünsche ihnen allen gute Gesundheit und baldiges Wiedersehen. Am 22. November hat mein Vater Geburtstag, er wird 71 Jahre. Klein Hugo soll ihm auch im Namen von seinem Papa und Mama gratulieren. Nun, liebe Schwägerin Ernestine, all meinen Dank Dir und Deinem lieben Mann für all die Mühe und Sorgen um das Wachsen und Gedeihen an Klein Hugo. Hoffen wir, es im Leben recht bald wieder gut machen zu können. Nun komme ich zu unserem Bub. Zu seinem 11. Geburtstage am 2. November und seinem 4., den er bei Dir verlebt. Nochmals Dir, liebe Schwägerin, Deinem Manne sowie allen, die Dir und Klein Hugo liebes erweisen, recht herzlichen Dank. Auf baldiges gesundes Wiedersehen grüßt Euch Dein Schwager Hugo.


Noch komplizierter wurde es, wenn bei der Post auch noch Fehler gemacht wurden. Darüber berichtete Hugo Salzmann im zweiten Teil dieses Briefes an seinen Sohn Hugo, dem eine Vertauschung der Briefe passiert war.

Brief von Hugo Salzmann vom 24. Oktober 1943 am seine Schwägerin Ernestine und seinen Sohn Hugo (Teil 2):

„Mein lieber guter braver Bub Hugo!

Euren letzten Brief, den ich von Euch erhielt, hattest Du in den falschen Briefbogen gesteckt. Ich erhielt den Brief, den Du an Mutti schicken wolltest. Natürlich, Mutti erhielt dann meinen Brief. Ich habe viel lachen müssen. Du schriebst immer „liebe Mutti, ich war in Judenburg in Graz, bei Onkel und Tanten, es hatte überall nur Freuden gegeben“, aber am Ende hattest Du dann wieder anstatt „liebe Mutti“ mal „lieber Vati“ geschrieben. Na, so weiß ich, dass Mutti, unsere Liebe, noch gesund ist, und Du nächstens den Brief nicht mehr verwechseln tust. Die Mutti wird ja auch über ihren Brief gelacht haben, und konnte sich vorstellen, was ihr lieber Bub für große Augen macht, wenn er davon erfährt. 

Nun, mein lieber guter Bub, am 2. November werden Mutti und Vati viel, recht viel an Dich denken. Deinen 11. Geburtstag begehst Du am 2. November. Welch ein großer Junge bist Du geworden in den vier Jahren, wo wir uns nicht mehr sahen. Ach Hugolein, Mutti, die Liebe, die so viel für Dich getan und geopfert hat, wird am 2. November weinend und laufend Deiner gedenken. Auch viele andere denken an Dich. Hoffen wir und wünschen wir an Deinem Geburtstage, dass die Zeit bald kommen möge, wo wir alle drei gesund, zufrieden einer hoffnungsvollen Zukunft gemeinsam entgegen leben können. Bleibe brav und lieb zu Tante Ernestine, Onkel und allen lieben Menschen. Werde ein gerader ehrlicher Mann. Dafür lerne fleißig in der Schule. Sei immer aufmerksam. Halte Dich gesund und sauber zu Deiner Freude, zur Freude von Tante sowie mir und Mutti. Werde groß, kräftig und klug, und wünschen wir an Deinem Geburtstage das baldige Wiedersehen, so sind das gleichzeitig die besten Glückwünsche für Dein weiteres Leben. Fest drückt und küsst Dich im Geiste Dein lieber Vati Hugo.“


Eines Tages wurde der eintönige Gefängnisalltag durch den Zuruf eines Wachtmeisters „Fertig machen zum Besuch!“ unterbrochen. Hugo Salzmann war ganz verwirrt. ‚Besuch –  um Himmels Willen’, fuhr es ihm durch den Kopf. ‚Wer macht die Dummheit, mich im Zuchthaus zu besuchen? Der bringt sich doch in Gefahr, die Gestapo merkt sich die Person, muss sie doch zuvor die Besuchserlaubnis erteilen. Wer mag das sein, der einen wegen Hochverrats verurteilten gefährlichen Zuchthäusler besuchen will?’ Als Hugo Salzmann den langen Gang zum Besuchsraum geführt wurde, erfuhr er es: „Bruder, Bruder“, schallt es plötzlich. Es war sein Bruder Karl, der sich voller Freude über das Wiedersehen auf ihn stürzen wollte. Aber der schneidende Befehl des Wachtmeisters: „Halt, stehen bleiben!“ verhinderte es. Stattdessen wurde Hugo Salzmann in den kahlen  Besucherraum mit einem langen Tisch und einigen Stühlen geführt. Auf der gegenüberliegenden Seite öffnete sich die Tür, Karl kam lachend und weinend zugleich herein. Nach vielen Jahren sahen sich die beiden Brüder im Zuchthaus wieder.

Später beschrieb Hugo Salzmann diese Begegnung in bewegenden Worten:

Hugo Salzmann erzählt vom Besuch seines Bruders Karl Ende 1943 im Zuchthaus Butzbach:

Tief kommt’s aus seinem Innern: „Bruder, Bruder!“ Welch ein Schmerz gemischt mit Freude nach elf Jahren furchtbaren Erlebnissen sich wieder zu sehen. Er muss an dem langen Tisch mir gegenüber Platz nehmen. Wir können und dürfen uns nicht umarmen. Über den Tisch halten wir uns die Hände fest. Die Worte bleiben uns im Hals stecken – erschüttert, uns so wieder zu sehen. Haltlos weinen wir, als könnten wir all das Erlebte, Schreckliche der vergangenen Jahre zum Ausdruck bringen. Wir drücken uns ganz fest die Hände und jeder von uns beiden, ohnmächtig ein Wort zu sagen, weiß, was er sagen will. Ein Wachtmeister beobachtet uns, keine Bewegung von uns entgeht ihm. Wir hatten noch kein Wort gesprochen, da hörten wir: „15 Minuten ist die Besuchszeit, nicht länger!“ – 15 kostbare Minuten nach 11 Jahren! Wir müssen sprechen.’

Mein Bruder Karl zog zuerst seine Militärmütze vom Kopf herunter. „Ach, Karl, Dein Kopf ist ja kahl“, staune ich. „Kommt vom Parteihut“ – „Wie Parteihut?“ – „Ja, vom Stahlhelm“. – „ Was haste denn für große Pflaster hinterm Ohr?“ – Oh, war eine schwere Verwundung, komme aus dem Lazarett, noch nicht ausgeheilt, muss wieder an die Front.“ Hastig kommen nun die Worte, als gelte es, die verlorenen Sekunden beim Wiedersehen nachzuholen.
 
„Ich soll zurück an die Krim. Wir haben lauter Jungen in der Kompanie. Wenn die Russen angreifen, Bruder, dann laufen sie schon fort. Die Russen kommen mit ihren ‚Mücken’, kleine Flieger, bums, die werfen nur zwei Bomben, und fort sind sie. In Scharen kommen sie angeflogen.“ Der Wachtmeister wird unruhig. Das hört er nicht gern, aber er schweigt. 

„Du bist doch Facharbeiter, ein guter Dreher.“ Mein Bruder unterbricht mich. „Ach, hör Bruder. Von den Seitz-Werken war ich dienstverpflichtet nach Magdeburg und da bekam ich mit einem SA-Mann Streit. Hatte ihm in die Fresse geschlagen, drei Monate Umerziehung, und ab an die Front. Bin noch nicht ganz ausgeheilt - siehste ja – und muss schon wieder an die Front auf die Krim“, sagt er sehr nachdenklich.

„Noch drei Minuten“, unterbricht der Wachtmeister, auf seine Uhr blickend. „Es ist dicke Luft, Bruder“  Seine Augen sagen mir, was er meint. „Haste nicht was zum Rauchen gegen den Hunger?“, frage ich. Er weiß nichts vom Hunger im Zuchthaus. „Ich hab da noch zwei Zigaretten“, und kramt dabei in seinen Taschen, „hier, Bruder, haste sie, sonst habe ich auch nichts.“ 

„Besuchszeit ist um“, hören wir. „Unsere Geschwister sind noch alle gesund, lebe wohl, Bruder, wir sehen uns wieder.“ Wir drücken uns nochmals über den Tisch die Hände – der eine  Bruder in Wehrmachtsuniform, der andere in der gezeichneten Zuchthauskleidung.“ 

 

Und wieder ging ein Jahr in Haft für Hugo Salzmann zu Ende. Es war noch unerträglicher als die Jahre zuvor, war er doch hinter Zuchthausmauern und hinter Gittern eingesperrt. Ein Hoffnungsschimmer für ihn war lediglich die Situation an der Ostfront, von der er sporadisch etwas mitbekam. Denn inzwischen war der Vormarsch der Deutschen Wehrmacht längst gestoppt, Ende Januar 1943 hatte die 6. Armee in Stalingrad kapituliert und die Rote Armee war auf dem Vormarsch nach Westen. 

Und natürlich war die Post seiner Angehörigen ein Grund zur Freude, ganz besonders die seltenen kleinen Briefe seiner Frau Julianna aus dem Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Anfang des Jahres 1944 erreichte ihn wieder ein Briefchen von ihr.

Brief von Julianna Salzmann von Jänner (Januar) 1944 an Hugo Salzmann:

„Mein lieber Hugo! Es ist schon lange, als ich Deinen lieben Brief erhielt, ich hatte mich sehr gefreut, danke vielmals. Unserem Bub geht es gut, er schrieb mir sehr lieb und zeichnete einen Tannenzweig mit zwei Vögelein, dazu ein gesundes neues Jahr. Von Tilla bekam ich eine Karte, Käthe und ihre Familie senden mir öfters einen Gruß durch ein kleines Päckchen. Alle lasse ich grüßen und wünsche ein gesundes neues Jahr und danke für alles. Lieber guter Hugo, bald hast Du Geburtstag, nehme von ganzem Herzen einen festen Händedruck, bleibe gesund und tapfer, es kommt die Zeit, wo wir wieder beisammen sind. Es freut mich, dass Karl bei Dir war, er ist ein armer(?) Kerl. Mir geht’s gesundheitlich gut, und ich wünsche mir nur, alle meine Lieben wieder zu sehen. Lieber Hugo, schreibe bitte an Tilla, sie soll mir, wenn möglich, zwei feste Nachthemden, keine weißen, schicken. Wir zählen 1944, es ist lange und schwer für alle Menschen, hoffentlich bringt uns das kommende Jahr den Frieden. Habe Ausdauer und bleibe gesund, sei innigst gegrüßt, guter Hugo, bis auf ein Wiedersehen umarmt und küsst Dich....“


Seit diesem und einem ähnlichen Brief  wusste Hugo Salzmann, dass es im Frauen-KZ Ravensbrück furchtbar war und seine Frau viel erleiden musste. Seit Paris, wo sie täglich mit einer Verhaftung rechnen mussten, hatten sie sich auf einen Geheimcode verständigt. Dazu gehörte, nach einer Verhaftung die Situation genau entgegengesetzt zur Wirklichkeit zu beschreiben. Wenn die Behandlung erniedrigend und gemein war und Hunger herrschte, dann schrieb man: „Mir geht es sehr gut, das Personal ist sehr freundlich“. Solche Aussagen passierten die Zensur ohne Schwierigkeiten. Natürlich entsprachen sie nicht der Wahrheit und die Zensoren wussten das auch. Aber was soll’s. Sie mochten denken, was sie wollten, den Schreiber für verrückt halten, der Empfänger erfuhr dadurch aber, in welcher schweren oder gefährlichen Lage der andere war. Und allein das war entscheidend.

Neuigkeiten „von draußen“  gelangten nur sporadisch zu den Häftlingen – und wenn, dann als Flüsternachricht, von der man nicht genau wusste, ob sie stimmte oder ob sie nicht dem Wunschdenken entsprach. 

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich aber die Nachricht, dass am 6. Juni 1944 die Westalliierten an der Atlantikküste in der Normandie gelandet waren. Hugo Salzmann überschlug sich geradezu vor Freude, als er an den Mienen des Wachpersonals und von französischen Häftlingen („Hitler kaputt!“) die Bestätigung erhielt. Jetzt musste Hitler-Deutschland den gefürchteten Zwei-Fronten-Krieg führen. Dies war seiner Meinung nach der Endkampf. Und Hugo Salzmann war so gut es ging dabei. Denn schon seit längerem betrieb er nach seinen Möglichkeiten als Häftling Sabotage. Bisweilen „stauchte“ er die von ihm zu bearbeitenden Zylinder und produzierte damit Ausschuss. Jeder Ausschuss war letztlich Sabotage und sorgte für einen Toten weniger. Das war Hugo Salzmanns stiller Kampf gegen Hitler und gegen den Krieg – und letztlich auch für seine Befreiung. Denn je früher dieser Krieg zu Ende war, desto eher konnten die Häftlinge mit ihrer Freiheit rechnen er selbst, aber auch seine Frau Julianna, die in den Briefen sehnsüchtig nach ihrer Familie verlangte und in Ravensbrück furchtbar leiden musste. So setzte der Pazifist Salzmann sehr viel, letztlich sein Leben, aufs Spiel, um zu einem baldigen Ende des Krieges beizutragen. 

Juliannas Schicksal beschäftigte Hugo Salzmann immer wieder. Der Höhepunkt war in der Nacht des 5. oder 6. Dezember 1944. Jahre später schilderte er tief bewegt diese Nacht.

Hugo Salzmann schildert die Nacht des 5. oder 6. Dezember 1944:     

„Diese furchtbare, endlose Nacht, diese Kälte, dieser kalte Mondschein. Aus dem Halbschlaf schrecke ich auf: „Hugo!“ Hat doch jemand gerufen. Schaue nach links, zum Mitgefangenen Kaspar. Nein, der atmet ruhig. Schaue nach oben, nein, Otto schläft. Hat nicht doch einer gerufen? Bewegungslos betrachte ich beide, habe doch meinen Namen gehört. Keiner rührt sich.
 
Verrückt, vielleicht hab’ ich geträumt. ‚Schlaf, sag ich mir, zwinge dich, wie schnell vergeht die Nacht. Gedanken jagen wie Blitze. Was macht der Bruder? Was die Schwestern in der Heimat? Was macht Julianna in Ravensbrück?’ Bin eingeschlafen.

„Hugo“, jammernd, Hilfe suchend, anhaltend, schreckt mich der Ruf aus unruhigem Schlaf. Setze mich hoch, schaue nach links, mir gegenüber liegt Kaspar. Das helle kalte Mondlicht liegt auf Kaspars Gesicht, er schläft, ja, er atmet. Oben liegt Otto. Hat er gerufen? Starre sein bleiches Gesicht an. Er klagte noch am Abend über Schmerzen im kaputt geschlagenen Kreuz. Wirklich das blasse, scharfe, knochige Gesicht im Mondschein. Atmet er? Oder ist er tot? Angestrengt betrachte ich Kaspar, er atmet, beobachte Otto – die schlafen wirklich. Hat keiner von ihnen geträumt? Einer hat doch nach mir gerufen…Stören lassen sie sich im Schlaf nicht. Ich versuche es ganz leise, leise: „Kaspar“, er schläft. Dann rufe ich: „Otto“, er schläft.

Zerschlagen und unbeweglich liege ich auf der brettharten Matratze. Das letzte Drittel des Schattens vom Gefängnisgitter am Zellenfenster verschwindet langsam an der Zellenwand. Wechselnd jagen die Gedanken durchs Gehirn. Tausende Möglichkeiten, Illusionen. Ängste um Menschen, alle, die einem nahe stehen – und Julianna und Kind. Erschreckt springe ich hoch. War ich eingeschlafen? Wo bin ich? Es hat mich jemand gerufen, laut, lang gezogen: „H u g o“, jammervoll, kraftlos, leise versank der letzte Buchstabe „o – o – o“.

Wer hat mich gerufen? Ich denke jetzt hellwach. Kaspar und Otto schlafen. Hat man Kreuznach bombardiert? Ist die Schwester tot? Ist der Bruder gefallen? Wer von allen ist in der größten Gefahr? Mein Kopf, ach mein Kopf, er brummt und schmerzt. Nein, Julianna ist in der größten Gefahr. 

Ja, Julianna, Ravensbrück. Steif sitze ich auf der harten Matratze. Der Kopf ist so schwer. Tief, vorn übergebeugt. Lautlos laufen die Tränen, immer fester gräbt sich der Gedanke ins Gehirn: Julianna, Du bist tot, Noch zuletzt hast Du gerufen – Dein letzter Gedanke – Dein letztes Wort. Ich habe Dich gehört. Nur Du kannst es gewesen sein. Du warst in der gefährlichsten Lage. Kein anderer sonst aus dem Familienkreis. Ich weine und weine lautlos, entkräftet und die Glocke des Zuchthauses klingt zum Aufstehen kalt durch die Gänge, an den Wänden entlang.“

 

Hugo Salzmann erzählt von seiner Haft im Zuchthaus Butzbach:

 

Frauenkonzentrationslager Ravensbrück ( Quelle: Wikipedia)

Unterdessen kam der Krieg immer näher. Wieder und wieder kreisten Kampfflugzeuge der Alliierten über Butzbach und warfen – wie die Häftlinge erfuhren – nicht weit von ihnen in Gießen und in Frankfurt ihre Last ab. Sosehr sie den baldigen Zusammenbruch des Hitlerregimes auch herbeisehnten, so waren sie doch in großer Sorge, ob sie diesen überhaupt noch erleben würden. Denn Bomben auf das Zuchthaus hätten für sie verheerende Folgen, gab es in ihren Zellen doch kein Entkommen. 

Ende Februar 1945 aktualisierten die katastrophale Ernährung in  Butzbach sowie die Aufregung und Sorgen Hugo Salzmanns altes Magenleiden. In einem „erbärmlichen, abgemagerten Zustand“ wurde er  in das Johanniter-Krankenhaus in Nieder-Weisel bei Butzbach eingeliefert. Dort stellte man ein Geschwür am Magenausgang fest, das zu einer Verengung geführt hatte. Bei der anschließenden Operation erhielt er einen neuen Magenein- und –ausgang, außerdem wurde ihm die Hälfte des Magens entfernt. Wegen des schlechten Gesundheitszustandes konnte kein weitergehender Eingriff vorgenommen werden. Dieses Magenleiden heilte nie mehr aus. Zeit seines Lebens litt Hugo Salzmann insbesondere an Magenkrämpfen, die vor allem nachts auftraten. Schon zwei Wochen nach diesem schweren Eingriff verlegte man ihn zurück ins Zuchthaus Butzbach. 

Dann dauerte es noch bis Ende März 1945, bis die amerikanischen Flieger im Tiefflug Butzbach ins Visier nahmen. Hugo Salzmann erlebte es hautnah von seinem Zellenfenster aus. Die weiße Fahne zur Kapitulation wurde gehisst. Dann hörte er das Rasseln von Panzerketten. Totenstille herrschte im Zuchthaus. Die Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Die weiße Fahne flatterte weiter am Mast. Das war sie endlich – die Freiheit. Hugo Salzmann weinte vor Freude, vor Erleichterung, einfach übermannt von der nachlassenden Anspannung und den Gefühlen. Zum Zellenfenster hinaus singt, ja schreit er die „Internationale“.

Die Gefangenen blieben in ihren Zellen, die Türen der „Politischen“ wie Hugo Salzmann waren aber nicht mehr verriegelt. Während zwei amerikanische Offiziere die Personalakten der Gefangenen überprüften, gab es für sie nach langer Zeit endlich wieder gut und satt zu essen. Immer wieder hatten sie Anlass zur Freude. Dazu gehörte auch das Wiedersehen mit Genossen und Kameraden. Einer hieß wohl Hugo Paul, genannt Sepp, aus Friedberg. Seine Zelle wurde zur Zentrale der „Politischen“. Hier sammelten sie die Berichte über den Vormarsch der amerikanischen Truppen. Zur Ausstattung der Zelle gehörte dabei auch eine Schreibmaschine. Die „Politischen“ genossen es, auf der grünen Wiese vor dem Zuchthaus zu liegen. Sie erhielten sogar „Urlaub“ und  gingen – ausgestattet mit 50 Reichsmark – ins Städtchen Butzbach. 

Es sollte dann noch einen Monat dauern, bis alle Formalitäten fürs erste geregelt waren. Inzwischen waren sogar Formulare, meist in englisch, teilweise auch in englisch und deutsch gedruckt worden, damit sich die Gefangenen legitimieren konnten. So bescheinigte der Vorstand des Zuchthauses Butzbach Hugo Salzmann unter dem Datum des 30. April 1945, dass er „ohne Lebensmittel und Geld“ aus dem Zuchthaus entlassen wurde.

Bescheinigung des Vorstands des Zuchthauses Butzbach vom 30. April 1945
über Hugo Salzmanns Entlassung, zweisprachig. (Quelle: privat)

Bescheinigung der Militärregierung der Alliierten vom 1. Mai 1945
über Hugo Salzmanns Entlassung aus dem Zuchthaus Butzbach, in En-glisch (Quelle: privat)

 

Besitzkarte von Hugo Salzmann für die Zelle im Zuchthaus Butzbach
Als „Souvenir“ seiner Haftzeit nahm sie Hugo Salzmann mit (Quelle: privat)