Kapitel 5: Interniert im Lager Le Vernet 

 

Verhaftung in der Nacht zum 1. September 1939.


Hugo Salzmann und die anderen Emigranten hatten verstanden, dass das Verbot der kommunistischen Zeitungen auch ihnen und ihrer Trait d’Union galt. Bereits am 30. August 1939 räumten sie die Unterlagen und Gerätschaften für die Herstellung der Zeitung beiseite. 

Damit waren er und die anderen aber nicht außer Gefahr. Es half auch nichts. Sie konnten machen, was sie wollten: Ihnen allen drohte Verhaftung und Internierung allein deshalb, weil sie Deutsche und Kommunisten waren und nun festgesetzt wurden. Den meisten widerfuhr dieses Schicksal auch schon wenige Tage später. Als erste wurden die deutschen Kommunisten festgenommen. In ihnen manifestierte sich das Misstrauen der Franzosen als ihre potentiellen Feinde. Man sah in ihnen die „Fünfte Kolonne“. Dieser kurz zuvor im Spanischen Bürgerkrieg entstandene und dann abwertend, oft verleumdend benutzte Begriff meinte, dass die deutschen Emigranten unter dem Generalverdacht standen, mit Hitler-Deutschland zusammenzuarbeiten. Darüber hinaus machte der Hitler-Stalin-Pakt - in den Augen der Franzosen - jedenfalls die Kommunisten und ihre Sympathisanten in Frankreich zu passiven Verbündeten der Nazis. Holzschnitzartig kann man fast sagen, dass der Krieg gegen den Hitlerfaschismus, für den Frankreich am 1. September 1939 mobil machte und den es dem Deutschen Reich am 3. September 1939 offiziell erklärte, als ein Krieg gegen die Antifaschisten im eigenen Land begann.

Der Emigrant Bruno Frei zur Verhaftungswelle bei Kriegsbeginn:

„In den letzten Augusttagen des Jahres 1939 – der Krieg hatte noch nicht begonnen – ordnete die französische Regierung, mit dem Ministerpräsidenten Edouard Daladier an der Spitze, die Verhaftung von mehreren tausend Ausländern an, die unter dem Verdacht standen, Kommunisten zu sein oder der Kommunistischen Partei nahe zu stehen. So begann in Frankreich, so unlogisch das auch schien, der Krieg gegen den Hitlerfaschismus als ein Krieg gegen Antifaschisten. Die französische Regierung hatte in dem Augenblick, da sie Hitlerdeutschland den Krieg erklärte, nicht die zahlreich in Paris herumlungernden deutschen Agenten (…) zur „Fünften Kolonne“ erklärt – sondern die Kommunisten, die einheimischen und erst recht die fremden.“ 
(zitiert nach: Bruno Frei: Die Männer von Vernet, a.a.O., Seite 7)

 

Hugo Salzmann war unter den ersten etwa 100 deutschen Kommunisten, die bereits in der Nacht vom Freitag, dem 31. August, auf Samstag, den 1. September 1939, aus dem Bett geholt und ohne Haftbefehl  verhaftet wurden. Für die allermeisten und auch für Hugo Salzmann kam diese Festnahme so überraschend, dass sie – wiewohl gute Beobachter – kaum noch eine nähere Vorstellung von den ersten Tage hatten. Immerhin erinnerte sich Salzmann noch an die einzelnen Stationen: Zuchthaus Fresnes, Prison le Santé, Sportstadion Roland Garros. Auch wusste er später zu berichten, dass ihm bei der Verhaftung von einem Polizisten angeboten wurde, sich doch für die Fremdenlegion zu melden. Das hat Salzmann vehement abgelehnt mit dem Satz:

Hugo Salzmann bei seiner Verhaftung:

„Wir kämpfen nicht als Söldner gegen das deutsche Volk!“

 

Diese Ablehnung und die Begründung hierfür sollten ihm Jahre später noch zum Vorteil gereichen.

„Natürlich“ kamen Hugo Salzmann und keiner der erwähnten etwa 100 deutschen Kommunisten und weitere in den nächsten Tagen festgenommene Kommunisten und andere Ausländer auf die Idee, hiergegen Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen. Wo sollte man sich deswegen auch hinwenden? In den Jahren zuvor war man der Unberechenbarkeit und Willkür der französischen Behörden ausgeliefert – wie sollte man jetzt in dieser Situation auf einmal rechtsstaatliche Grundsätze einklagen? Und wo auch? 

Die Festnahmen und Inhaftnahmen waren juristisch gesehen Freiheitsberaubungen. Sie hätten nach rechtsstaatlichen Grundsätzen von einem Richter angeordnet werden müssen. Aber das waren sie nicht. Für jeden einzelnen Festgenommenen bedurften sie einer Ermächtigungsgrundlage, die aber fehlte. Aber was half eine solche Einschätzung den Inhaftierten schon?

Auch wussten sie nichts von den Vorschriften, die überhaupt eine solche Verfahrensweise im Allgemeinen und überdies auch nur sehr pauschal vorgaben bzw. umrissen. Grundlage für das Verfahren im Allgemeinen – aber nicht für die Verhaftungen im jeweiligen Einzelfall – war das Dekret  der französischen Regierung vom 12. November 1938. Es war eine Art Gesetz – eine allgemeine Regelung -, die aber nicht vom Parlament verabschiedet, sondern von der Regierung erlassen worden war. Das war im Frankreich jener Jahre durchaus üblich, da sich das Parlament aus der Gesetzgebung weitgehend verabschiedet und diese der Regierung überlassen hatte.

Prison le Santé - Detailansicht (Quelle: Google Earth)

 

Hugo Salzmann schildert seine Verhaftung und seine erste Haftzeit in Paris:

 

 

Im Sportstadion Roland Garros.


Das Dekret vom 12. November 1938 ermächtigte die französischen Behörden, staatenlose Ausländer, die als „gefährlich für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit“ angesehen wurden, jetzt „strengsten Überwachungsbestimmungen“ zu unterwerfen. Sie konnten als „gewisse unerwünschte Ausländer“ in Lagern (Centres) interniert werden. Mit einem weiteren Dekret vom 21. Januar 1939 wurde die Errichtung des Sondersammellagers (Centre spécial de Rassamblement) von Rieucros in Südfrankreich angeordnet. Aufgrund eines Gesetzes bereits vom 25. März 1935 waren zudem die Präfekten ermächtigt, bei Verbrechen und Delikten gegen die innere oder äußere Sicherheit des Landes ohne gerichtlichen Haftbefehl Verhaftungen anzuordnen. Mit dem am 1. September 1939 erlassenen Dekret „Relatif aux interdictions de rapport avec l’ennemi“ schließlich hatte man die deutschsprachigen Exilanten zu Gegnern Frankreichs erklärt und als solche verstießen sie schneller als zuvor gegen die Gebote der inneren und äußeren Sicherheit. Das war der ganze, rechtlich vage, nicht aufeinander abgestimmte und auf die festgenommenen Personen nicht passende Rahmen für diese Razzien und Verhaftungen – der den Festgenommenen und Inhaftierten noch nicht einmal mitgeteilt oder sonst wie bekannt gemacht worden war. 

Um eine Struktur in diese Inhaftierung zu bringen, legte Hugo Salzmann von Anfang an einen Tageskalender beginnend mit dem 1. September an. Dann strich er die Tage ab dem 2. September ab. Außerdem nahm er vereinzelt Eintragungen vor, deren Bedeutung sich heute nicht mehr erschließt. Wie trostlos er seine Lage einschätzte, wird etwa daran deutlich, dass er ihn bis zum Jahresende aufschrieb:

Von Hugo Salzmann selbst angefertigter Kalender ( Quelle: privat)

Nachrichten über Hugo Salzmann erhalten wir erst wieder von Bruno Frei, der wie er in der Nacht vom 31. August auf den 1. September 1939 verhaftet worden war. Wie Salzmann kam auch er nach der Unterbringung in Gefängniszellen in das Sportstadion Roland Garros, an dessen Eingangstür eine große Tafel angebracht war: „“Camp des indésirables“ („Lager der Unerwünschten“). Hugo Salzmann, der schon vor ihm ins Stadion gekommen war, nahm sich seiner an – wie Bruno Frei schreibt „mit derber Herzlichkeit“. Er zeigte ihn auch, wie man den Schlafplatz mit Brettern gegen die Bodennässe sichert und wie man das Stroh sauber hält.

Derweil waren Hugo Salzmanns Gedanken bei seiner kleinen Familie, insbesondere bei seinem mittlerweile sechs Jahre alten Sohn Hugo. Seine Gefühle für ihn drückte er in kleinen schlichten Zeichnungen aus, die er fast täglich anfertigte. Sie waren für Klein Hugo bestimmt, sie sollten ihn aber nie erreichen.

Hugo Salzmanns Zeichnungen für seinen Sohn, September 1939 (Quelle: privat)

Zunächst wussten die Franzosen nur, dass sie diese „verdächtigen“ Personen festsetzen wollten – nicht aber, was mit ihnen sodann geschehen sollte. Es dauerte noch gut zwei Wochen, bis sich das Innenministerium einen Plan für diese und auch andere Ausländer zurecht gelegt hatte. Unter dem 17. September 1939 teilte das Ministerium den Plan dem Polizeipräsidenten von Paris und den Präfekten der einzelnen Departements (vergleichbar den Regierungspräsidenten in Deutschland) mit. Danach sollten – wie es hieß – die „vom nationalen Gesichtspunkt verdächtigen“ oder die für die „öffentliche Sicherheit gefährlichen“ Ausländer im Lager Le Vernet gesammelt werden. In diesem ganz im Süden Frankreichs gelegenen Lager sollten nicht nur die in Paris verhafteten Ausländer festgesetzt werden, sondern solche aus ganz Frankreich. In einem weiteren Rundschreiben von Anfang Oktober 1939 informierte das Innenministerium die Präfekten, dass das Lager Le Vernet seit dem 2. Oktober eröffnet sei und sie dorthin die „verdächtigen oder gefährlichen Ausländer ihres Departements“ schicken könnten.

Karte des noch unbesetzten Frankreichs mit ausgewählten Lagern in Südfrankreich 

Erlass des französischen Innenministeriums vom 17. September 1939:

INNENMINISTERIUM 
ZENTRALVERWALTUNG  DER  STAATSSICHERHEIT
ZENTRALVERWALTUNG  DER  LANDES-  UND  AUSLÄNDERPOLIZEI 
7. Büro (P.G.)

REPUBLIK FRANKREICH
Paris, den 17. September 1939

DER  INNENMINISTER
an den Generalgouverneur von Algerien
an den Polizeipräsidenten (Paris)
an die Präfekten

Nach Absprache mit dem Kriegs- und Verteidigungsminister habe ich die Ehre, Ihnen mitzuteilen, dass die für Frankreichs Sicherheit verdächtigen oder die öffentliche Ordnung gefährdenden Ausländer bis auf weiteres entweder unter Polizeigeleit an die Grenze zu führen oder zu internieren sind.

Die Männer sind in dem Sammellager Le Vernet (Département Ariège) zu internieren. Desgleichen sind die verdächtigsten Frauen – nach Absprache mit der Gemeindebehörde, worüber Sie in Kürze benachrichtigt werden – im Pariser Gefängnis Petite Roquette zu internieren. Die anderen Frauen sind in das Lager Rieucros (Département Lozère) zu überführen, gemäß den Anweisungen, die Sie noch erhalten werden.

Ausländer, deren Ausreise möglich ist.

Diesbezüglich weise ich darauf hin, dass alle aus dem Deutschen Reich stammenden Individuen, die in Bezug auf Frankreichs Sicherheit verdächtig sind, nicht etwa auszuweisen, sondern gemäß den nachstehenden Bedingungen in die Lager Le Vernet, Rieucros oder das Gefängnis Petite Roquette zu überführen sind.

Wenn einer Ausreise des Betreffenden nichts im Wege steht, ist es angemessen, ihn unter Bewachung der Behörden zu stellen, bis es möglich ist, ihn mit anderen Ausländern zusammenzuführen, die Frankreich über dieselbe Grenzstelle verlassen werden. Sie sind unter Polizeigeleit bis zu der Stelle zu führen, an der sie unser Land verlassen sollen.

Internierte Ausländer:

Aus dem Deutschen Reich stammende Ausländer zwischen 17 und 65 Jahren. Unter ihnen sind die Ausländer im Alter von 17 bis 50 Jahren bereits in Sammellagern interniert und unter Aufsicht der Militärbehörden gestellt.
Letztere haben in Übereinstimmung mit meinen Dienststellen beschlossen, dass diese Maßnahmen fortan auch für die feindlichen rekrutierbaren Ausländer im Alter zwischen 50 und 65 zu gelten habe (siehe die Mitteilung an Presse und Funk vom 14. September 1939).
Des Weiteren teile ich Ihnen mit, dass der Verteidigungs- und Kriegsminister in einem Rundschreiben vom 17. September 1939 die Militärbefehlshaber der Regionen aufgefordert hat, die in besagten Zentren internierten Ausländer bis auf weiteres festzuhalten, auch wenn sie nach Auffassung der Sichtungskommission als politische Flüchtlinge anzusehen sind. Sie wären in diesem Fall von den anderen internierten Reichsangehörigen zu trennen und einer Sonderregelung zu unterwerfen.

Allerdings können diejenigen aus dem Deutschen Reich stammenden Ausländer, die eine Ehefrau oder Kinder französischer Staatsangehörigkeit haben, von der Kommission entlassen werden. 

Dasselbe gilt auch für Ausländer, für die ein Sonderbeschluss in Übereinstimmung mit dem Verteidigungsminister gefasst und von mir bekannt gegeben wurde.

Feindliche Ausländer unter 17 und über 65 Jahre.
(…)
Ausländer, die derzeit eine Gefängnisstrafe verbüßen.
(…)
Ausländer, die die öffentliche Ordnung und die nationale Sicherheit nicht gefährden und deren Ausreise zurückgestellt worden ist. 
(…)
Ausländer, die sich in irregulärer Lage in Frankreich befinden und keine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit darstellen
(…)
Staatenlosen, die aufgrund der gegen sie getroffenen administrativen Maßnahmen von den militärischen Registrierlisten gestrichen worden sind. 
(…)
Besondere Lage der unerwünschten Ausländer italienischer Herkunft, die das faschistische Regime unterstützen.
(…)

Der Innenminister i.A. Der Generalsekretär des Innenministeriums gez. Berthoin                                                                            

(zitiert nach: Barbara Vormeier: Die Lage der deutschen Flüchtlinge in Frankreich. September 1939 - Juli 1942 in : Jacques Grandjonc /Theresia Grundtner (Hrsg.): Zone der Ungewissheit, a.a.O., S. 210 ff. (224 ff.)

 

 

 

Verschleppung ins Konzentrationslager Le Vernet.


In der Nacht vom 12. Oktober 1939 wurden die Häftlinge vom Stadion Roland Garros bei Dunkelheit und kaltem Regen und mit ihren Habseligkeiten in Autobusse verladen, die sie dann durch die verdunkelte Stadt zum Bahnhof brachten. Insgesamt waren es ca. 600 Männer, die zusammen mit Hugo Salzmann in einem Güterzug die französische Hauptstadt Paris verließen. 

Hugo Salzmann erzählt von seiner Haft im Stadion Roland Garros in Paris :

 

Mit Hugo Salzmann gingen u. a. „auf Transport“: Siegfried  Rädel, Franz Dahlem, Philipp Daub, Heinz Renner, Paul Merker, Hans Eisler, Friedrich Wolf, Rudolf Leonhard, Fritz Grohs, Dr. Hans Altmann, Rudi Feistmann, Eric Jungmann, Bruno Frei, Friedrich Hey, Heiner Rau und andere mehr.

Die Häftlinge hatten keine Ahnung, wohin die Reise ging. Rudolf Leonhard fasste das in seinem Gedicht „Transport 3“ in die Worte: „Wir reisen in die schwarze Nacht / und können das Ziel nicht wählen ./ Wir werden irgendwohin gebracht / keine Stationen zählen.“
 
Damals war noch alles möglich, zumal Frankreich noch nicht von Hitler-Deutschland besetzt worden war. Zwar hatte Frankreich – wie auch Großbritannien – Deutschland am 3. September 1939 den Krieg erklärt, nachdem dieses am 1. September 1939 mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg entfesselt hatte, aber Kampfhandlungen hatte es im Westen noch nicht gegeben – und sollte es auch weitere Monate nicht geben. Frankreich war an sich Polen aufgrund eines Allianzvertrages zum Beistand verpflichtet. Es sah sich aber durch seine Friedens- und Appeasement-Politik sowie die weitgehend versäumte Aufrüstung nicht kriegsbereit. Deshalb verhielt es sich wie auch Großbritannien weitgehend passiv und überließ Polen seinem Schicksal. Andererseits meinte Frankreich, sich durch die massiven Bunkeranlagen der Maginot-Linie ausreichend gegen einen Angriff durch Hitler-Deutschland abgesichert zu haben. Diese ungewöhnliche Art des Krieges, bei der die Tage mit Warten auf den Feind vergingen, erhielt schon bald den bezeichnenden Namen „Drôle de guerre“ („Komischer Krieg“).

Auch innenpolitisch schuf dieser „Komische Krieg“ eine ungewöhnliche Situation, gerade auch für die französischen Kommunisten. Zum einen waren sie unsicher und ratlos, wie sie sich nach dem Hitler-Stalin-Pakt verhalten sollten. Zum anderen wurden sie zu inneren Feinden, weil sie sich vom Einmarsch der sowjetischer Truppen nach Polen - am 17. September 1939 bis zu einer bestimmten Linie (der im geheimen Zusatzabkommen des Hitler-Stalin-Paktes vereinbarten Demarkationslinie) - nicht distanzierten und damit das Kriegsgeschehen im Osten guthießen. Zehn Tage später verfügte die französische Regierung die Auflösung der KPF. Am 20. Februar 1940 schloss die Abgeordnetenkammer 45 kommunistische Abgeordnete, die nicht offen mit der Sowjetunion gebrochen hatten, aus ihren Reihen aus. Einige Tage später wurden sie zu Gefängnisstrafen verurteilt.

Angesichts dieser Umstände kann man sich gut vorstellen, dass die deutschen kommunistischen Emigranten, die am 12. Oktober 1939 mit dem Güterzug Paris verließen, einer ungewissen und unsicheren, ja gefährlichen Zukunft entgegenfuhren.

Am Nachmittag des 13. Oktober 1939 endete für sie die Fahrt an einem kleinen Bahnhof, auf dem stand: „Le Vernet“. In Empfang genommen wurden sie von einer Abteilung Soldaten mit aufgepflanztem Seitengewehr. Immerhin konnten sie bei strahlendem Sonnenschein in der Ferne die Kette der Pyrenäen sehen, denn Le Vernet lag im südfranzösischen Pyrenäenvorland und nur 50 Kilometer von der spanischen Grenze entfernt. 

Das Lager Le Vernet, um 1940 (Quelle: mit frdl. Genehmigung http://www.campduvernet.eu)

Die Lage zur spanischen Grenze war auch der Grund dafür, dass das Lager Le Vernet, das schon 1918 für senegalesische Kolonialtruppen errichtet worden war, Anfang 1939 zum Auffang- und Sammellager für Mitglieder der Internationalen Brigaden wurde. Diese hatten vor den Truppen Francos in dem für die spanische Republik verloren gegangenen Bürgerkrieg über die Pyrenäen fliehen müssen. In Frankreich waren sie von der Garde mobile, einer Spezialtruppe der Gendarmerie, empfangen, von ihr entwaffnet und in verschiedene Lager im Süden – eben auch nach Le Vernet – gebracht worden. 

Als die deutschen kommunistischen Emigranten am 13. Oktober 1939  ins Lager kamen, war Le Vernet zu jener Zeit eins von mindestens 102 Internierungslagern in ganz Frankreich. Seine Bezeichnung mit „Konzentrationslager“ war aber fast einmalig. Es gab außer Le Vernet nur noch zwei, die ausdrücklich auch „Konzentrationslager“ genannt wurden.

Später wurde noch mit dem Dekret vom 18. November 1939 eine „Rechtsgrundlage“ für die Internierungen nachgeliefert. Dieses Dekret ergänzte die im Dekret vom 12. November 1938 nur vage angesprochene „strengere Überwachung“ „unerwünschter“ Ausländer. Danach sollten „Individuen, die für die nationale Verteidigung oder Sicherheit gefährlich (seien)“, aufgrund einer Entscheidung des Präfekten von den Militärbehörden zum Verlassen ihres Wohnsitzes gezwungen und ggf. in von dem Verteidigungs- und Kriegsminister sowie dem Innenminister zu bestimmende Lager gebracht werden. Zudem sahen die Ausführungsbestimmungen zu ´diesem Dekret die Einrichtung einer Kommission (Commission de triage ou de criblage) vor, die die einzelnen Fälle überprüfen sollte.

 

Im Lager Le Vernet.


Das erste, was die Internierten vom Lager Le Vernet sahen, war der Fahrweg zum Lager und an seinem Ende eine hölzerne Pforte. An einem Fahnenmast flatterte die Trikolore. Davor war ein Schilderhäuschen in den Farben der Republik aufgebaut. Auf dem bogenartigen Mittelstück der Pforte stand in großen Buchstaben CAMP  VERNET  ARIÈGE. 

Das Lager Le Vernet war etwa acht Hektar groß. Aus der Entfernung sah man zunächst nur ein Gewirr von Stacheldraht; ein dreifacher Stacheldrahtzaun und parallel laufende Gräben sicherten das Lager ab. Der Boden war karg; bei Trockenheit steinig und staubig, bei Kälte beinhart und holprig; bei Regen versank man in knöcheltiefem Schlamm. 

 

Eingang des Konzentrationslager Le Vernet s/Ariège, um 1940 
(Quelle: mit frdl. Genehmigung http://www.campduvernet.eu)

Im Lager gab es drei Abteilungen – Quartiers genannt -: A, B und C. Hierüber berichtet Hugo Salzmann wie folgt:  

Bericht von Hugo Salzmann über das Internierungslager Le Vernet s/Ariège

„Das ganze Lager ist von außen rundum großflächig von engen Stacheldrahtverhauen eingezäunt. Innerhalb ist es in drei Abteilungen aufgeteilt: Quartier A, B, C, die ebenfalls mit Stacheldrahtverhauen voneinander getrennt sind. In den Wachtürmen außen herum steht Garde Mobile mit MGs und patrouilliert um das Lager. Diese Garde-Mobile-Mannschaften werden aus Männern rekrutiert, die mindestens fünf Jahre lang in französischen Kolonien gedient und zuverlässig jeden Befehl ausgeführt hatten
.
Das „Deuxieme bureau“ überprüft nochmals jeden eingelieferten „Internierten“. Die Inspektoren entscheiden nach den Personalunterlagen der Polizeipräfekturen über die Einweisung in Quartier A, B oder C. Jeder wird kahl geschoren. Kriminelle und sogenannte Kriminelle kommen ins Quartier A. Auch Antifaschisten wurden als Kriminelle eingewiesen. Der „Inspektor“ entschied. Im Quartier B waren die politisch Aktiven – „gefährliche“ Antifaschisten, besonders spanische Republikaner, Kämpfer der Internationalen Brigaden aus Ungarn, Polen, Jugoslawien, viele deutsche und österreichische Freunde, Holländer, Luxemburger, Italiener, Belgier, Juden, Rumänen und eine Gruppe ehemaliger Weißgardisten, russische Offiziere des Zaren. In Frankreich lebten sie als Chauffeure, kleine Geschäftsleute, Mitglieder von Kosakenchören. Die meisten brachte man in die Baracke 8. Der einflussreichste ehemalige Weißgardist wurde vom Lagerkommandanten zum Barackenchef bestimmt. Man versuchte diese ehemaligen Weißgardisten gegen die vielen Kommunisten und Spanienkämpfer aller Nationen in der Baracke 8 ausspielen zu können. Verärgert über die Internierung ließen sie sich aber nicht missbrauchen. Quartier C war mit hunderten spanischer Republikaner und Kämpfern der Internationalen Brigaden belegt. Hier liefen Nachforschungen des Deuxieme bureau: Welche Parteizugehörigkeit, welche Widerstandsgruppe, welche Funktionen, Tätigkeiten, welche militärischen Chargen haben Sie ausgeübt? – Es waren mutige Genossen, diese Männer vom Quartier C.“ 

Das Lager bestand aus Baracken, die aus Holz und Ziegeln errichtet waren, in der Abteilung B gab es auch zwei Zementbaracken. In der ersten Zeit fehlten Fenster, elektrische Beleuchtung und Öfen. Links und rechts eines Gangs befanden sich die kojenartig unterteilten Bretterboxen als Schlafstelle. In einer Baracke waren ca. 180 bis 200 Männer untergebracht. Im Lager herrschten in jeder Beziehung Elend und Not, aber dafür gab es – im Unterschied zu den deutschen Lagern - weder Brutalitäten noch nennenswerte Gewalttätigkeiten. Wenn man in Le Vernet starb – und man starb auch da -, dann starb man an schlechter Ernährung, mangelnder Hygiene und fehlender ärztlicher Versorgung.

Zunächst galt für alle Internierten Arbeitspflicht. Bald erreichten die Männer vom Quartier B aber, dass sie auf freiwilliger Basis arbeiten konnten. Die Versorgung im Lager war einförmig (z. B. in gewissen Wochen nur Kohl, in anderen nur Rüben, Topinambur usw.)  Angesichts dieser Unterversorgung traten Krankheiten abnormal häufig auf.

In den Baracken herrschten Hunger und als Folge davon Elend und Krankheiten, besonders im Winter. Typisch waren Gewichtabnahmen, die während der ersten sechs Monate 20 bis 25 Prozent betrugen. sowie Ödeme an den Gliedmaßen und im Gesicht, begleitet von Erbrechen und Aussetzen der Lebertätigkeit. Vielfach waren Magen-Darm-Entzündungen, die in den Zeugenberichten häufig als Ruhr bezeichnet werden.

Bericht von Hugo Salzmann über das Alltagsleben im Lager:

„Das „Leben“ im Lager ist immer gleich bleibend. Stacheldraht. Elende Holzbaracken. Im Quartier B zwei Zementbaracken. Reste vom Ersten Weltkrieg. Zwischen den Baracken: meterlange Holztröge – wie Futtertröge. Darüber ein durchlöchertes Wasserrohr. Stundenweise läuft eiskaltes Wasser aus der Ariège (Gebirgsfluss der Pyrenäen) hinein.

Die Masse der „Internierten“ besitzt nur das, was sie auf dem Leib tragen. Die spanischen Republikaner, Kämpfer in den Internationalen Brigaden, tragen ihre verschlissenen Uniformen. Waschmittel oder Seife sowie Desinfektionsmittel gibt es nicht. Wir liegen auf Strohbündeln. Das alte Stroh zerbricht in kleine Stücke und entwickelt Strohstaub. Reizt zum Husten. Nachts huschen Ratten und Mäuse über die Schlafenden. Mäuse bauen ihre Nester im Stroh. Die Lagerplätze sind voll mit Millionen Flöhe. „Fette“ Flöhe, groß wie ein Streichholzkopf. Zu hunderten hängen sie morgens in den Decken. In den Bretterspalten zeigen sich Wanzen. Man sucht Kleiderläuse, Filzläuse und Kopfläuse. In den Holztrögen gibt es nur kaltes abgestandenes Wasser zum Waschen. Tagelang liegen Kleidungsstücke und Wäsche in den Trögen eingeweicht. Man hofft, dass die Läuse ersaufen. Aber die sind zäh und manche fressen sich unter die Haut. Die Lausnissen gehen überhaupt nicht kaputt. Wenn die Wäsche trocknet, werden sie wieder lebendig. Sie sind gefährliche Krankheitsträger.

Dazu noch der Hunger. Die Lebensmittelrationen werden immer kleiner. Seit Monaten immer dasselbe: Mittags ein Stück getrockneter gesalzener Klippfisch, dazu Suppe mit Karawansen. Das sind spanische Erbsen, d. h. gelbe Kugeln mit stahlblauen Käferchen im Innern. Alte Ware für Schweine! Und die Suppe, aus was besteht die? Aus Wasser und Karawansen, die, obwohl gekocht, nicht klein zu kriegen sind. Oben auf dem Wasser schwimmt eine dicke Schicht blauer Käfer. Später gibt es auch keinen gesalzenen Fisch mehr sondern Topinambour, eigentlich üblicherweise zur Spritherstellung und als Schweinefutter verwendet. Hunger war unser Begleiter, aber schlimmer noch waren die schweren Gedanken: Keine Nachricht von den verlassenen Frauen und Kindern! Werden die Frauen auch verhaftet? Wo sind sie jetzt…?  - Briefsperre!

Man spricht über alle wichtigen und unwichtigen Dinge: Krieg und Frieden, Tod und Leben, über Wanzen – Ratten – Läuse und Flöhe

Man steht vor oder liegt in der Box. Die Männer sind sehr ernst. Mancher hat schon tiefe Falten im Gesicht. Sorgen, Ungewissheit – jeder weiß, es wird nur immer schlechter. Gedrückte Stimmung.“ 

Die Männer von Vernet hatten schon viel mitgemacht und es stand ihnen eine ungewisse Zukunft bevor. Immerhin waren sie nicht ganz allein und vergessen. Ein sozialistischer Abgeordneter machte in einer Parlamentsrede ihre Situation öffentlich mit den Worten:

Rede des sozialistischen Abgeordneten Marius Moutet:

„Tausende von Menschen sind verhaftet worden. (…) Es lag kein Haftbefehl gegen sie vor; es wurde keine Anklage erhoben und kein Richter beauftragt. Wochenlang herrschte uneingeschränkte Willkür, bis zu dem Tage, an dem der größte Teil der Inhaftierten in die Konzentrationslager für Verdächtige (Camps de concentration de suspects) eingeliefert wurden: Roland Garros in Paris, Rieucros in der Lozère für die Frauen und Le Vernet in der Ariège für die Männer. (…) Es ist unbedingt notwendig, diese Ausländer über ihre rechtliche Lage genau zu informieren. Ein großer Teil verlässt das Internierungslager, um sich zwecks Aufnahme in die französische Armee in das Lager Sathony zu begeben. (…) Wie ist die rechtliche Lage der in die Lager eingelieferten Personen, sind sie Internierte (internés) oder lediglich in Lagern gruppiert (rassemblés)? (…) In welcher rechtlichen Lage befinden sich die Personen, denen Hitler die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt hat? Was kann man für sie, ihre Ehefrauen und ihre Kinder tun, die hilflos und ohne Existenzmittel zurückgeblieben sind? (…) Es ist nicht zulässig, dass die Menschen, die aus den Hitlerlagern entkommen sind, nun in französischen Lagern interniert bleiben. Das wäre allzu ungerecht, allzu grausam. Diese Menschen müssen
in kürzester Frist freigelassen werden.“
(zitiert nach: Barbara Vormeier: Dokumentation zur französischen Emigrantenpolitik (1933 - 1944), Zweiter Teil von : Hanna Schramm: Menschen in Gurs, a.a.O., S. 155 ff. (226))

 

Dieser eindringliche Appell hatte nur einen gewissen Erfolg. Immerhin wurden ab Anfang Dezember 1939 in verschiedenen Lagern „Sichtungskommissionen“ aktiv. Sie sollten die „unverdächtigen“ Emigranten ermitteln und dann für ihre Entlassung sorgen. Das war für die deutschen Kommunisten keine wirkliche Perspektive. Es brachte aber   ebenso Unruhe in das Lager wie die Entlassung einiger Internierter, die eine Einreiseerlaubnis in ein anderes Zufluchtsland erhalten hatten und dann ebenfalls das Lager verlassen konnten. Die Verhältnisse im Lager änderten sich fortwährend. Das Ziel der Lagerleitung blieb aber immer dasselbe: Ruhe und Ordnung sollten herrschen. Dazu gab es zwei Methoden: eine harte, die auf Strenge und Härte sowie Verboten basierte, und eine milde, die auf Einsicht, der Wirkung kleiner Zugeständnisse und das Prinzip Hoffnung baute. Welche Methode gerade angewandt wurde, hing wesentlich von den häufiger wechselnden Lagerkommandanten und auch von den allgemeinen politischen Verhältnissen ab.

Hugo Salzmann schildert die 1. Mai - Feier 1940 im Konzentrationslager Le Vernet:

 

Am 10. Mai 1940 endete die „Drôle de guerre“ mit dem Angriff der Deutschen Wehrmacht an der Westfront. Der Vorstoß gelang Hitler am Rande der Ardennen, dort, wo die Franzosen wegen des Höhenzuges keine speziellen Verteidigungsmaßnahmen getroffen hatten. Faktisch war der Krieg seit dem fünften Tag der deutschen Offensive für Frankreich verloren, sechs Wochen später war die Niederlage besiegelt. Am 14. Juni 1940 marschierte die Wehrmacht in Paris ein. Eine Woche später musste die inzwischen neu gebildete französische Regierung unter dem Marschall Pétain den Waffenstillstand und dessen Bedingungen akzeptieren. Dazu gehörte u.a. die Teilung Frankreichs in zwei Zonen: in eine nördliche Zone, die von der Linie Genf-Dole-Chalons-sur-Saone-Moulins-Bourges-Langon-Mont de Marsan begrenzt war (sie wurde dem deutschen Militärbefehlshaber in Paris unmittelbar unterstellt) und in eine südliche, die sogenannte  nördliche Zone, die die Regierung Pétain vom Badeort Vichy aus regierte.

 

Karte des von Hitler-Deutschland besetzten Frankreichs mit ausgewählten Lagern in Südfrankreich

 

Besuch im Lager.


Durch diesen Krieg war nicht nur die frühere, gewählte Regierung Frankreichs auf der Flucht – fast ganz Frankreich war es. Mit den Flüchtlingsströmen kamen auch viele Frauen von in Le Vernet Internierten mit ihren Kindern vor die Tore des Lagers und versuchten, über den Zaun hinweg mit ihren Männern Kontakt aufzunehmen. Im Allgemeinen wurden sie jedoch aufgrund einer gene- rellen Anweisung der Lagerleitung von den Wachposten zurück- getrieben. Den ersten Ausnahmefall schildert Hugo Salzmann in einem Bericht. Er hat sich wohl im Frühsommer 1940 zugetragen.

Bericht von Hugo Salzmann: „Zwei Frauen und ein Hund“.

„Aufgeregt kommt der junge ungarische General Lazlo in die Baracke. „Auf der Straße von Vernet haben wir zwei Frauen gesehen!“ – „Unglaublich!“ – „Du fantasierst!“ – Frauen...? Lachen. „Frauen dürfen doch gar nicht hier in die Nähe kommen! Hast Du hier in den ganzen Monaten jemals eine Frau, ein Mädchen oder ein Kind gesehen?“ – „Doch, Genossen, es stimmt, zwei Frauen. Mit dem Taschentuch haben sie zum Lager hin Zeichen gemacht. Sie gehen Richtung Kommandantur.“

Wie ein Feuer verbreitet sich die Nachricht im ganzen Lager, vom Quartier B über den Stacheldraht zum Quartier C und A. Männer aller Nationalitäten rennen zu den Drahtverhauen. „Wer sind die Frauen?“ – „Weiß nicht, suchen ihre Männer!“ – Eine hat  einen Hund dabei.“ – „Einen Hund?“ Gemächlich nähert sich von der Kommandantur ein Garde  Mobile. Hinter ihm gehen tatsächlich zwei Frauen. Eine führt einen Schäferhund.

Aufgeregt blicken sie zu den Männern hinterm Stacheldraht. Nun stehen die beiden auf dem kleinen Hof der „Besucherbaracke“. Suchend gehen die Augen zu den Männern hinterm Stacheldraht. Zwischen der Baracke 7 und 8 stehen die Freunde Philipp Daub, Franz Dahlem, Dr. Friedrich Wolf, Paul Krauter, Rudolf Leonhard, Siegfried Rädel, Hans Altmann, Hans Eisler, Bruno Frei, Doktor Theo (der Jugoslawe), alles Genossen der spanischen Internationalen Brigaden. Sie blicken erwartungsvoll zu den Frauen. Plötzlich: „Käthe! Käthe!“ Franz Dahlem hoch gereckt, ein feines Lächeln um den Mund, streckt beide Arme in die Höhe…Ja, sie haben sich gefunden. Von weitem schon. Käthe bringt Nachrichten. Fast gleichzeitig winkt Hans Altmann, drückt sich aus der Gruppe nach vorne. Nicht zu halten, dieser Hans! „Meine Frau – und mein Hund! Ja. Ja, das ist meine Frau und mein treuer Hund!“

Alles winkt, schreit Fragen, Wünsche, Grüße; welch eine Freude bei all den harten Männern. Die Garde Mobile verlässt die Frauen. Unerwartet, ein Pfiff aus der Gruppe. Der Hund hebt den Kopf und hebt die Ohren. Altmann kann sich nicht beherrschen. Pfeift wieder, winkt. Der Hund jault auf, heult, dreht sich um sich selbst, springt hoch, stellt sich auf die Hinterbeine, sieht jetzt auch seinen Herrn. Der Hund dreht sich im Kreis. Läuft zurück. Kurzer Anlauf – ein gewaltiger Sprung – fällt in den Stacheldraht.

Gibt nicht auf, sucht im Zickzack nach einer Lücke – da und dort – jault auf. Zerreißt sich das Fell. Keiner kann ihn halten oder zurückpfeifen. Wir sind betroffen. Alle Augen gehen zum Hund.  Da eine Lücke! Am Boden kriechend sucht er, findet eine Lücke, noch eine, er hat es geschafft. Altmann steht mit aschfahlem Gesicht am Drahtzaun. Der Hund springt an ihm hoch. Zerrissenes Fell, blutend. Die Vorderbeine auf der Brust Altmanns. Leckt ihm Gesicht und Hände. Hans kann sich kaum wehren. Versucht zu beruhigen... Schweigend stehen die Männer, bewegt, arme Kreatur, braver Hund!

„Monsieur Franz Dahlem, Monsieur Hans Altmann“, schallt es vom Lagertor über die Köpfe der Männer. „Ans Tor! Besuch!“ Zwei Männer und der treue Hund gehen zum Tor. Wir anderen warten auf die Neuigkeiten, die uns die beiden Frauen von der Außenwelt bringen.“Die Neuigkeiten, die die Internierten nach der Besetzung Frankreichs erhielten, waren besorgniserregend. Sie betrafen vor allem die in Artikel 19 des Waffenstillstandsvertrages enthaltene Ver- pflichtung der französischen Regierung, deutsche Gefangene unverzüglich den deutschen Truppen zu übergeben.

 

Die Lage verschärft sich.

 

Art. 19 des Waffenstillstandsvertrages:

„Alle im französischen Gewahrsam befindlichen deutschen Kriegs- und Zivilgefangenen einschließlich der Haft- und Strafgefangenen die wegen einer Tat zugunsten des Deutschen Reiches festgenommen und verurteilt sind, sind unverzüglich den deutschen Truppen zu übergeben. Die französische Regierung ist verpflichtet, alle in Frankreich sowie in den französischen Besitzungen, Kolonien, Protektoratsgebieten und Mandaten befindlichen Deutschen, die von der deutschen Regierung namhaft gemacht werden, auf Verlangen auszuliefern. Die französische Regierung verpflichtet sich zu verhindern, dass deutsche Kriegs- und Zivilgefangene aus Frankreich in französische Besitzungen oder in das Ausland verbracht werden. Über bereits außerhalb Frankreichs verbrachte Gefangene sowie über die nicht transportfähigen kranken und verwundeten deutschen Kriegsgefangenen sind genaue Listen mit Angabe ihres Aufenthaltsortes vorzulegen. Die Aufsicht über die kranken und verwundeten deutschen Kriegsgefangenen übernimmt das deutsche Oberkommando.“

 

Damit schwebten von nun an die in Le Vernet internierten deutschen Emigranten ständig in der Gefahr, an die deut- schen Behörden, d.h. an die Gestapo, ausgeliefert zu werden, das bedeutete für sie Lebensgefahr. Die Durchführung des Waffenstillstandsabkommens regelte und überwachte die Waffenstillstandskommission (WAKO) in Wiesbaden. 

Für die deutschen Kriegsgefangenen und Zivilinternierten bildete die WAKO eine Unterkommission. Diese hatte – so ihre Aufgabe – in enger Zusammenarbeit mit dem Außenministerium in Berlin die Zivilgefangenen und die „übrigen Reichsangehörigen aus dem gesamten französischen Machtbereich ins Deutsche Reich“ zurückzuführen. Damit ver- fügten die Nationalsozialisten über ein legales, völkerrechtlich „abgesichertes“  Mittel, um alle deutschen Emigranten in Frankreich nach Deutschland zurückzuholen. Dementsprechend waren die deutschen Internierten in den Lagern äußerst besorgt.

In der Zeit vom 27. Juli bis zum 30. August 1940 war diese Kommission in den Lagern, Gefängnissen und Krankenhäusern in der unbesetzten Zone unterwegs. An zwei Tagen besuchte sie auch das Lager Le Vernet. Ihr offizieller Auftrag war festzustellen, ob die französischen Behörden ihre sich aus Art. 19 des Waffenstillstandsabkommens ergebende Verpflichtung zur „Freilassung und Heimschaffung der deutschen Zivilgefangenen und der wegen Vergehens zugunsten Deutschlands Inhaftierten erfüllt“ hätten sowie hierzu die Namenslisten zu erstellen. Darin erschöpfte sich aber nicht der Auftrag dieser Kommission, was sich schon an ihrer Zusammensetzung ablesen ließ. Neben deren Leiter, einem Legationsrat im Auswärtigen Amt namens Ernst Kundt – daher auch die Bezeichnung „Kundt-Kommission“ – gehörten ihr u.a. drei Gestapo-Vertreter des Reichssicherheitshauptamtes und zwei Vertreter des Oberkommandos der Wehrmacht an. Vor allem die Gestapoleute nutzten die Gelegenheit, genauere Angaben über die frühere Tätigkeit der einzelnen Internierten zu erlangen und zusammenzutragen. Außerdem sollten sie die „guten Elemente“ der in den französischen Lagern internierten Reichsdeutschen herausfinden und sie zur Rückkehr veranlassen. Selbst politisch Internierte sollten eine „Chance“ erhalten, wieder „anständige Deutsche“ zu werden. Hierfür war allerdings zunächst eine „Umerziehung“ in einem deutschen Konzentrationslager vorgesehen. 

Über dieses Angebot diskutierten die deutschen Emigranten hin und her. So interessant ein Verlassen des Konzentrationslagers Le Vernet auch auf den ersten Blick erscheinen mochte, so war es doch bei genauerem Hinschauen mit hohem Risiko behaftet, begab man sich doch damit freiwillig in die Hände der Gestapo. Deshalb machten gerade viele deutsche Kommunisten – auch Hugo Salzmann – davon keinen Gebrauch. Einer der wenigen, der sich unter diesen Umständen zur Rückkehr nach Deutschland entschied, war Friedrich Hey – sein, wie ihn Salzmann nannte, „treuer Freund, Schlafkamerad und Mitkämpfer in der Emigration“. Fred Hey verließ dann im September 1940 das Lager Le Vernet. Für die deutschen Kommunisten kam eine solche freiwillige Rückkehr nicht in Betracht. Da halfen auch keine Versprechungen und Tricks, die sich die Gestapoleute einfallen ließen. Hugo Salzmann zeigte keinerlei Interesse an einer solchen Rückkehr. Ebenfalls im August 1940 erhielt er einen der seltenen Briefe von seiner Frau Julianna. In diesem deutete sie ihre verzweifelte Lage in dem inzwischen feindlichen Paris an und teilte ihm mit, dass sie alles daran setzen werde, Sohn Hugo in die Obhut ihrer Schwester Ernestine in Stainz in der Steiermark zu geben.

Auch nach der „Kundt-Kommission“ ging das Leben – und auch das Sterben -  der Männer von Le Vernet wie bisher weiter. Sorgen und Nöte bestimmten ihren Alltag. Vor allem das völlig unzureichende Essen sorgte für ständige Qualen. Später schilderte Hugo Salzmann immer wieder, wie sehr er und die anderen darunter litten.

Bericht von Hugo Salzmann:

„Das gleiche in allen Baracken. Verpflegung immer „das gleiche“: wenig Brot, Topinamboursuppe, übel riechend. Faule erfrorene Knollen. Kein Salz, kein Fett, keine Zwiebel, nichts – Wasser. Gasproduzierende Topinambour. Brot, runde, von Ratten angefressene tiefe Gänge, oft durchs ganze Brot, verunreinigt mit Rattenblut.

Der wichtigste Vorgang des Tages war die Brotverteilung. Jedem Internierten stand eine Tagesration von 150 Gramm Brot zu – ohne Rattenblut. Ein rundes Brot wurde aufgeteilt auf sechs bis acht Internierte. Ein Kamerad empfing das Brot. Er hatte seine Waage, ein Holzstück, in der Mitte ein kleiner Haken, auf beiden Seiten das Stück einer Blechbüchse am Faden. Sechs oder acht Augenpaare beobachteten die Waage. Haargenau muss jedes Stück das gleiche Gewicht haben. Es geht um jedes Gramm. Der Hunger beobachtet. 

Im „Vorratslager“ laufen Garde Mobile mit Knüppeln den Ratten nach. Schlagen sie zwischen den Broten tot. Es kommt kein Nachschub von Lebensmitteln. Das Küchenholz zum Feuern ist rationiert. Der Barackenofen kalt – es gibt kein Brennholz.

Die mutigen Spanienkämpfer und kommunistischen Genossen protestieren beim Kommandanten gegen die Verpflegung, diesen Schweinefraß. Nach solchen Beschwerden inspizierte er, voller Hochmut und Arroganz, begleitet von zwei Garde Mobile und seinem großen, fetten, voll gefressenen Schäferhund, der hinter ihm herwatschelt, die Baracken. Dieser Capitaine hasste alle Widerstandskämpfer und arbeitete mit Vichy-Pétain und der Gestapo zusammen. Sein „Ehren- wort“, keinen deutschen Widerstandskämpfer auszuliefern, war Betrug. Der Kommandant zeigte mehr Aufmerksamkeit für seinen voll gefressenen Hund als für die hungernden Gefangenen.

Die ehemaligen Spanienkämpfer organisierten den Widerstand gegen den Hunger und das Verhalten des Kommandanten. Die Führung wurde von den Kommunisten Franz Dahlem, Siegfried Rädel, Philip Daub und anderen Genossen der deutschen Lagerleitung übernommen. Gemeinsam mit den italienischen, jugoslawischen, polnischen, österreichischen, spanischen und ungarischen Lagervertretungen wurde beraten, wie dem Hunger im gesamten Lager getrotzt werden konnte. Aufstand der Hungrigen gegen eine bewaffnete Garde Mobile und den Lagerkommandanten?

Die Internierten diskutierten: Ja, bessere Lebensmittel, mehr Brot, Kohlen, Holz für die Küche und die Baracken. Die Forderung zündete. Alle hungern – alle frieren. Die Garde Mobile spürte die Stimmung der Hungrigen. Sie hatten auch ihre Zuträger im Lager, ihre Agenten. Die Internierten kannten diese Leute. Dem Capitaine entgingen nicht die sehn- süchtig gierigen Blicke der Gefangenen, die dem fetten Hund folgten. Der Hunger war groß. 

Krankheit, vor allem Typhus, ging um. Das „Krankenrevier“, eine Holzbaracke, war überfüllt. Einen Arzt gab es nicht. Ein Zahntechniker fungierte als Arzt. Seine Patienten waren dem Tod geweiht. Er sammelte das restliche Brot der Toten und schmuggelte es seinen Genossen und Kameraden ins Lager.
 
Jeden Tag verhungerten Internierte. Jeden Morgen schleppte die Latrinenkolonne, je zweimal zwei Mann in Achterreihe, die überlaufenden Kübel zur Ariège, um sie dort zu entleeren. Einige fingen während dieser Tour Schlangen und Ratten, kochten sie in den Konservenbüchsen. Die Typhusrate stieg rapide.

Für die politisch Bewussten galt die Anweisung, trotz des furchtbaren Hungers keine Ratten oder Schlangen zu essen.“

 

Am schlimmsten waren die Winter, denn diese verschärften mit der Kälte und dem Schnee die ohnehin elenden Lebensbedingungen. Immer wieder kam es vor, dass ein Internierter erfror. Für Hugo Salzmann war der Winter 1940/41 bereits der zweite sehr strenge Winter, den er im Lager Le Vernet aushalten musste. Ein kleiner Bericht von ihm gibt einen gewissen Eindruck davon: 

Bericht von Hugo Salzmann über den Winter 1940.

„Winter 1940. Eisig kalt. Seit Tagen Schneestürme. Vom Sturm gelöste Bretter schlagen gegen die Wände der Holzbaracken. Durch die offenen Lücken dringt Schnee und Kälte zu den Lagerstätten der Gefangenen. Eingemummt in ihren Kleidern, Mänteln und Decken liegen sie schlafend oder wachend auf ihren staubigen Strohsäcken. Andere laufen im schmalen Barackengang von einem Ende zum anderen. Rauf – runter – rauf – runter – stundenlang. Sie gehen langsam wie zur Beerdigung, Schritt für Schritt, bedächtig, nur nicht an einen Stein stoßen! Dabei ist der schmale Gang pieksauber…

Andere sind Schnellläufer – rauf-runter, rauf-runter, rauf-halt! Blicken sich um, schauen nach der trüben kleinen einzigen Beleuchtung in der Mitte der Baracke, ziehen den Kopf ein und rennen rauf – runter…

Wohin wollen sie rennen? Stacheldraht – Schneesturm – Garde Mobile – Wachtürme – MGs – Kälte – Hunger.

Jeden Tag Appell – Fahnenhissen – Latrinenkolonne – Hunger – Kälte.“

 

Die „Latrinenkolonne“ von Le Vernet (Abbildung im Nachlass Hugo Salzmanns)

 

Der Hund des Kommandanten.

 

Bericht von Hugo Salzmann: „Frikadellen im KZ Vernet – Der Hund des Kommandanten“:

„Mein Freund, der Spanienkämpfer Hans Weyer, weit gereister Seemann, kam täglich in meine Baracke, schaute mir beim Knochenschnitzen zu und freute sich über jede neue Knochenarbeit, die ich machte. Dabei erzählte er von seinen Erlebnissen und von seinen vielen verschiedenen Spezialitäten, die er in verschiedenen Ländern gegessen hatte. Nebenbei sagte er: „Hugo, das gäb’ Frikadellen!“ Dabei lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Er leckte mit der Zunge die trockenen Lippen. „Was für Frikadellen?“, frage ich. Denke dabei: „Der wird verrückt!“ Hans lacht: „Hugo, den Kerl könnte man im eigenen Fett braten. Wir müssen „ihn“ bekommen! Ich habe ihn schon lange im Auge, dem Capitaine seinen fetten Hund. Freundchen, das gäbe ein Essen!“. Hans reibt sich die Hände und geht.

Hans Weyer besprach seinen Plan mit seinen Freunden. Als der Capitaine mal wieder mit seinem Hund zum Quartier B kam, standen Hans und seine Freunde lässig an Baracke 9. Einmal musste es doch klappen. Der Köter müsste sich einmal zu meiner Baracke hin verlaufen! Und da: Bei der nächsten Inspektion von Quartier B schnupperte der Hund an den Mülltonnen von Hans Weyers Baracke. Das war der ersehnte Moment! Hans jagte den Hund in die Baracke. Die Freunde – vorbereitet – schnappten den Fetten. Blitzschnell schlug der Knüppel auf den Kopf, in einen Sack gesteckt, zugebunden und eilig zum Stacheldraht von Quartier C, den Spanienkämpfern, gebracht. 

Ein Pfiff, ein Strick durch den Stacheldraht, den Sack dran gebunden, drüben zogen ihn zwei Freunde unterm Draht durch das Quartier C. Plötzlich hörten alle den Kommandanten rufen und pfeifen, sie sahen ihn von Baracke zu Baracke eilen, weiter den Hundenamen rufend und pfeifend, und stieß wilde Drohungen gegen die Internierten aus. Kein Hund bellte, er blieb verschwunden. Der Hund war weg. Wütend verließ er Quartier B. In Baracke 9 herrschte Freude, Schadenfreude! Währenddessen hatten die Freunde in Quartier C den Hund fein säuberlich ausgenommen, Därme und Fett sofort vergraben.

Unsere Freunde, die Spanienkämpfer, hatten noch Kochgeschirr, Pfannen, einen Fleischwolf usw. aus dem Spanischen Bürgerkrieg mitgebracht. Stück für Stück drehten sie den Hund durch den eisernen Wolf. Bald brannte ein Holzfeuer und der Duft von Frikadellen zog durchs Lager.

Im Geist verschlang man schon seine Frikadelle – nein, man muss sie ganz langsam essen, Stück für Stück genießen! Wie lange hatte man schon kein Fleisch mehr gesehen! Ach nein, lieber mit einem Mal gleich aufessen, dann knurrt der Magen nicht mehr…. Was wird das für ein Gefühl sein? Ja, besser ist, sie gleich zu essen, sich gleich in der eigenen Box verstecken, den Sack vorziehen und schnell die Frikadelle in den Magen! Könnte ja ein Kamerad kommen, sieht die Frikadelle und will auch ein Stück! Nur ein Gedanke beherrschte uns: satt, satt werden! Wann gibt es endlich die Frikadellen! Frierend wartete ich am Barackeneingang. „Schnell, komm Hugo!“, rief Hans mir zu und hielt ein kleines Päckchen in der Hand, hielt’s mir unter die Nase, lachte wie ein Junge, dieser Prachtmensch von Hans. Es duftete: „Hier, Hugo, drei Frickis – ab in die Baracke!“ 

Hans verschwand. Ich eilte zu meiner Box ... die ein mit Brettern zusammengenagelter Verschlag war, zog den Sack vor und entfernte mit zitternden Fingern gierig das Papier. Was, drei Frikadellen, so viele, unglaublich! Drei Frikadellen, fettig-braun gebraten, frisch aus der Pfanne! 

Schon arbeitete es in meinem Gehirn: Mein treuer Freund Friedrich Hey, mein Schlafkamerad und Mitkämpfer in der Emigration in Paris, er muss auch eine haben! Ja, denn Solidarität zu bewahren, war auch einer der Grundsätze! Der Duft zog in die Nase. Wie ein kleiner Junge, der sich auf sein Leibgericht freut, leckte ich mit der Zunge. Unglaublich, drei Frikadellen! Immer wieder betrachtete ich sie, staunte über das Fett, das sich schon über das Papier verteilt hatte. Und wieder arbeitete es in meinem Hirn: Du darfst nicht alle drei aufessen. Der Fried bekommt auch eine, ja, ja, Hugo, der Friedrich bekommt auch eine, dann hast du immer noch zwei für dich!

Plötzlich wurde ich aus meiner Versunkenheit aufgeschreckt, vorsichtig wurde der Vorhang, so bezeichnete man den Lumpen, der unsere Box abteilte, zurückgeschoben. Wer schaute mich an? Nicht mein Freund Fried, sondern mein Nachbar von nebenan. Es war Hans Altmann, der Berliner Theatermann. Er musste die Sache mit den Frikadellen irgendwie spitz bekommen haben. Da liegen meine Frikadellen und duften. Auf ihnen ruhen die Augen Altmanns. Ich beobachte seinen Blick und schon leckte er mit der Zunge, sein Gesicht bekam einen besonderen Glanz. Es juckte ihn und er kratzte sich unaufhörlich von einer Schulter zur anderen. Die Kleiderläuse quälten ihn, aber sein Blick blieb ununterbrochen auf meinen drei Frikadellen haften. Da hörte ich schon die gefürchtete Frage: „Oh, la la, Hugo, gib mir nur eine, geh! Gib mir nur eine!“ Dieser bittende Blick – bis heute unvergessen.

Bei der Aussicht, dass – wenn mein Freund Friedrich eine bekäme und Hans Altmann auch eine – mir nur eine bliebe, schien mir ein psychologisches Vorgehen am wirkungsvollsten. „Weißt du, Hans, du bist Jude, deine Religion verbietet dir, Schweinefleisch zu essen, geschweige denn Hundefleisch! Hans, du versündigst dich doch an deiner Religion. Das geht doch nicht!“ Hans schüttelte den Kopf: „Oh Hugo, nur eine, geh, gib mir nur eine Frikadelle!“ Meine psychologischen Kenntnisse hatten keine Wirkung, der Hunger war stärker und das Solidaritätsgefühl in mir war stärker. „Da hast du eine!“ Mit Heißhunger verschlang Hans, der Jude, die Hundefrikadelle mit einer Schnelligkeit, als gelte es, einen Rekord zu brechen. Das Fett glänzte an seinem Bart. „Oh, was für ein Aroma!“ und wischte sich mit beiden Händen das Fett von Mund und Bart. „Danke dir, Hugo!“ Schnell aß auch ich meine Frikadelle und nie habe ich es bereut. Es war ja der Hund des Kommandanten!“  



 

Das Jahr 1941.


Irgendwann im Frühling 1941 erfuhr Hugo Salzmann davon, dass sein Sohn mit einem Transport des Roten Kreuzes zu seiner Schwägerin Ernestine Fuchs in Stainz in der Steiermark gelangt war. Das ergibt sich aus einem Brief Hugo Salzmanns an seinen Sohn in Österreich. Diese Information hat er möglicherweise durch einen Brief aus der Schweiz erhalten, der an ihn im Lager Le Vernet adressiert war und der ihn auch dort erreichte. Davon ist heute noch ein Briefumschlag erhalten – als deutlicher Hinweis auf einen solchen Zusammenhang. Der Inhalt des Umschlags ist allerdings nicht mehr vorhanden. Dieser Briefkontakt hat sich dabei höchstwahrscheinlich aus der Zusendung von Arbeiten Hugo Salzmanns aus dem Konzentrations- lager Le Vernet an diese Schweizer Adresse ergeben – darüber wird später noch zu berichten sein. 

An Hugo Salzmann  im Konzentrationslager Le Vernet adressierter Briefumschlag, Vorderseite oben, Rückseite darunter (Quelle: privat)

 

Daraufhin nahm Salzmann Kontakt zu seinem Sohn und seiner Schwägerin Ernestine in Österreich auf. Das Schicksal seiner Frau Julianna war ihm aber weiter unbekannt. Deshalb heißt es auch am Ende des Briefes: 

„Ich weiß nicht, wo Deine liebe Mama ist. Weißt Du es, Klein Hugo? Dann schicke ihr viele, viele liebe Grüße von Deinem Papa.“

Er spiegelt die totale Ungewissheit über das Schicksal seiner kleinen Familie und die Sehnsucht Hugo Salzmanns nach ihr deutlich wider – wie auch die Dankbarkeit gegenüber seiner Schwägerin Ernestine und seinem Schwager.

Brief von Hugo Salzmann von „Frühling 1941“ an seinen Sohn Hugo, seine Schwägerin Ernestine und Schwager in Stainz/Österreich:

„Liebe Schwägerin Ernestine – Schwager und Du unser lieber großer Bub Hugo!

Endlich nach langer Zeit weiß ich, wo unser lieber Junge Klein Hugo ist. Welche Sorgen hatte ich - wie viele, viele wird lieb Mama haben. Wie wird sie sich sehnen, Dich, lieber Bub, wieder zu sehen. Dich zu besorgen – zu liebkosen. Nur wer Deine Mama kennt, kann das fühlen und verstehen. Ich weiß nicht, wo Deine liebe Mama ist. Weißt Du es, Klein Hugo? Dann schicke ihr viele, viele liebe Grüße von Deinem Papa. Gell. Mein lieber guter kleiner Hugo, höre mal lieb zu, was Dir Papa sagt:  Bleibe recht brav und lieb zur Tante Ernestine – die ….(?) wie lieb sie für Dich sorgt, waschen tut, Essen kochen und abends aufpassen muss, damit Du nicht zu spät ins Bett gehst. Höre, lieber Bub, sei brav zum Onkel und allen lieben Menschen. Lerne in der Schule gut - wenn Du Deine Schularbeiten gemacht hast – dann frage Tante Ernestine, ob Du mit Deinen Kameraden spielen gehen kannst. Aber, lieber Bub, lerne gut – dann freuen sich die Mama, Dein Papa und alle lieben Menschen. Siehst Du – weil Du brav und gut gelernt hast – schickt Dir Papa auch ein selbst gemaltes Herzlein. So denkt Papa viel – viel an Dich und an Mama. Bleibe recht lieb – ich gebe Dir viele, viele Bussi – für Dich und die liebe Mama – viele Grüße für Tante Ernestine und für Onkel – Dein Papa Hugo.

Liebe Schwägerin und Schwager,

ich danke Euch recht innig von Herzen, dass Ihr so lieb zu unserem Jungen seid. Viele Menschen, liebe, gute, edle Menschen haben sich außer mir und meiner lieben Julerl schon um Klein Hugo gesorgt. Ich und Julerl (obwohl ich nicht weiß, wo sie jetzt ist) und viele gute Menschen sind beruhigt, dass er in so liebe Hände zu Euch kam. Ich selbst, Ernestine, werde noch eine große weite Reise machen. Ich wünsche von Herzen, bei all meinem Sehnen, doch bald mit meiner lieben Julianna und Klein Hugo wieder zusammen zu sein – bald – ja dieses „bald“. Nochmals viele Küsse meinem Sohne – bleibt alle gesund – meinen innigsten Dank, grüßt meine Julerl, recht herzliche Grüße Euch beiden. Anbei ein kleines Herzlein für Klein Hugo. Euer Schwager Hugo“

Mit der „großen, weiten Reise“ deutete Hugo Salzmann etwas an, was im Frühjahr 1941 im Lager Le Vernet im Schwange war, aber wegen der Postzensur im Lager nicht so ausgesprochen werden konnte und das im Übrigen damals für Hugo Salzmann auch noch nicht aktuell war. In dieser Zeit verließen aus den verschiedensten Gründen und mit ganz unterschiedlichen Zielen Internierte das Lager. Offenbar hoffte Hugo Salzmann, mit ein bisschen Glück ebenfalls aus dem Lager – mit einem guten Ende – frei zu kommen. 

Damit nicht gemeint hatte Hugo Salzmann mit Sicherheit die Ausreise von Internierten nach Deutschland zur Arbeitsaufnahme. Eine solche kam für deutsche Kommunisten wie ihn ebenso wenig in Frage wie zuvor eine freiwillige Rückkehr, für die die Gestapo im August 1940 geworben hatte. Dafür meldeten sich lediglich Internierte verschiedener Nationalitäten, die - wenn sie nicht angaben, bei den Internationalen Brigaden für die Spanische Republik gekämpft zu haben – ganz gut in Deutschland in der Masse der Zwangs- bzw. Fremdarbeiter „untertauchen“ konnten. Ebenso wenig hatte Salzmann damit eine Verschleppung Internierter zum Bau der Trans-Sahara-Bahn oder in Lager nach Nordafrika, etwa in das Lager Djelfa in den Blick genommen. Das waren Strafmaßnahmen, die man sich zu dieser Zeit auf keinen Fall wünschte, die aber durchaus vorkamen. 

Nein. Hugo Salzmann hoffte offenbar, die sowjetische Staatsbürgerschaft zu erlangen, um dann mit einem sowjetischen Pass über Portugal, die USA und Japan in die UdSSR gelangen zu können. Diese Möglichkeit bot sich bei einem ersten Transport am 18. März 1941 200 neuen Sowjetbürgern, unter ihnen auch der Schriftsteller und Arzt Friedrich Wolf. Eine andere Chance, dem Lager Le Vernet zu entkommen, hatten die Internierten, die mit einem Visum in Gastländer ausreisen konnten. Das gelang ab und zu kleinen Gruppen, die ins Ausreiselager Les Milles bei Marseille verlegt wurden, um dann vor allem nach Mexiko zu emigrieren.

Die Situation in Frankreich und auch im Lager Le Vernet veränderte sich wesentlich durch den Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Für Le Vernet bedeutete das vor allem, dass die in Frankreich operierende Gestapo immer hartnäckiger Auslieferungsforderungen an das Innenministerium in Vichy richtete.
 
Das Ministerium konnte diesem Druck immer weniger standhalten. So kam es, dass die Nationalpolizei Vichys am 25. September 1941 ein Schreiben an den Präfekten von Tarn richtete, das u.a. auch Hugo Salzmann betraf. Es enthielt den Zusatz: „Ces indivus feront l’objet de surveillance trés stricte pour éviter toute évasion. Leur interdire tout contact avec extérieur visites estafette correspondance“. Was ins Deutsche übersetzt in etwa hieß: „Um jede Fluchtmöglichkeit auszuschließen, sind diese Individuen strengstens zu bewachen. Jeder Kontakt zu Besuchern von außerhalb und darüber hinaus auch jegliche Korrespondenz sind zu verbieten“. Das war meist der letzte Schritt vor der Auslieferung an die deutschen Behörden.  

Hugo Salzmann war am 4. Oktober 1941 mit bei den ersten, die daraufhin das Lager Le Vernet verließen. Zu dieser Zeit waren noch die meisten bekannten Kommunisten im Lager. Von diesen nahm er Abschied, manche sollte er nie wiedersehen.  

Bericht Hugo Salzmanns von Abschied in Le Vernet:

„Ich denke an den unvergesslichen Siegfried Rädel beim Abschied in Vernet. Dieses menschlich große Empfinden, bis zu seinen einfachsten treuen Mitkämpfern. Er umarmte mich, drückte mich an sein Herz, küsste mich auf beide Wangen. Tief und ernst schaute er mir in die Augen: „Hugo, Du weißt, welchen Weg Du gehen musst. Ich weiß, Du bist standhaft. Ein schwerer Weg, Hugo, lieber Hugo.“ Dieser Händedruck, diese Umarmung, seine vertrauenden Augen, der Mitkämpfer aus den 1920er Jahren. Die Augen trübten sich, er dreht sich um. Da – steht Franz Dahlem, ruhig sieht er diesem Abschied zu. Er ist abgehärteter nach außen, keine Gefühlsausbrüche. „Du weißt, es ist unser Weg, der Kampf gegen den Faschismus, gegen Hitler und seine Generäle. Bei allen Opfern, Hitler verliert den Raubkrieg. Genosse, Du weißt es. Habe Mut!“ Ein Händedruck, ein Schwur ohne Worte.“

Dann wurde Hugo Salzmann zusammen mit dem ehemaligen Interbrigadisten Ferdinand Weingartz und dem jüdischen Emigranten Wilhelm Hoffmann von Le Vernet nach Castres gebracht. 

In dem Ort Castres gab es ein Gefängnis, das die Vichy-Regierung ab 1941 zu einem geheimen Zweck betrieb. Dorthin wurden deutsche Emigranten verbracht, um sie dann der Gestapo zur Verfügung zu stellen. Das waren Geheimaktionen, die auch den Bürgern des Ortes weitgehend unbekannt blieben. Das Geheimgefängnis firmierte unter verschiedenen Namen. Zum Teil wurde es als Nebenlager des Lagers St. Sulpice im Departement Tarn bezeichnet, teils hatte es auch, gerade bei den Inhaftierten in Le Vernet, den Namen „Baracke 21“ – ergänzt durch den Zusatz „Le Vernet“. In dieses Gefängnis wurden im Laufe des Jahres 1941 aus dem Lager Le Vernet die wichtigsten Funktionäre der KPD verlegt, eben auch Hugo Salzmann. Prominente wie Franz Dahlem, Siegfried Rädel, Heinrich Rau und der italienische Kommunist Luigi Longo folgten ein paar Wochen später.  

Nicht unerwähnt bleiben soll, dass Hugo Salzmann später angab, seine Auslieferung sei durch einen dementsprechenden Antrag des Kreuznacher Kreisleiters der NSDAP Ernst Schmidt ausgelöst worden. Zur Begründung hatte dieser behauptet, Salzmann habe in seiner Firma Ost & Scherer in Bad Kreuznach, in der er bis zuletzt vor seiner Flucht Ende Februar 1933 gearbeitet habe, Sabotage betrieben. Dies lässt sich heute nicht mehr verifizieren. Im Übrigen hat Salzmann in dieser Situation ohnehin gedroht, in das Auslieferungsgefängnis Castres zu kommen.